Die Gastspiele der »Borderline Prozession« beim Berliner Theatertreffen im Mai 2017 waren eine Art Krönung für Kay Voges‘ bisherige Arbeit am Schauspiel Dortmund. Sie bleiben als Triumph für den Intendanten und vor allem auch für sein Ensemble im Gedächtnis, das, seit es 2010 nach Dortmund kam, immer wieder neue Formen ausprobiert hat. Voges selbst erinnert sich aber noch an etwas anderes: »Ein Schauer durchfuhr mich, als ich beim Theatertreffen war und der Megastore mit dem kompletten Bühnenbild der ‚Borderline Prozession‘ in den Rathenau-Hallen nachgebaut war. Ich stand mitten im Bühnenbild und dachte, das ist doch wie Dortmund, nein, das ist Dortmund. Wie kann es sein, dass wir am gleichen Ort sind und doch an einem anderen?«
Natürlich lässt sich diese Frage ganz einfach beantworten. Nur greift die rationale Erklärung zu kurz, dass das Bühnenbild in Berlin so exakt wie möglich nachgebaut werden musste, um das Gastspiel zu ermöglichen. Diese Verdopplung des Ortes hatte etwas Gespenstisches. Denn es war, als begegne einem plötzlich ein Doppelgänger, von dem man bisher nichts wusste. Die Welt der »Borderline Prozession« war mit einem Mal nicht mehr einzigartig. Zumindest für ein paar Tage gab es sie zweimal, im Megastore und in den Rathenau-Hallen. Zwischen ihnen öffnete sich noch ein anderer, ein immaterieller Raum, der viel Platz für Gedankenspiele bot.
Gegen die Grenzen der Zeit
Aber nicht nur der Begriff von Raum hatte sich während der Berliner Gastspiele für Kay Voges verschoben. »Dann fiel auch noch Eva Verena Müller für eine Vorstellung aus, und wir haben in die Live-Aufnahmen der fortwährend um das Bühnenbild herumkreisenden Kamera Material von Evas Auftritt am Abend zuvor eingeschnitten. Das Gestern wurde Teil des Heute und spielte mit ihm.« In der »Borderline Prozession« geschahen zahllose Ereignisse zur gleichen Zeit. Ein Mann schnitt Zwiebeln, eine Frau wurde von zwei Soldaten vergewaltigt, eine ältere Dame lag im Sterben, eine jüngere Frau kehrte mit ihrem Neugeborenen aus der Klinik zurück. Alltägliches stand neben Tragischem, Glück neben Schmerz. Etwas endete, anderes begann. Das war das Prinzip dieser Inszenierung, die einen mit der Unübersichtlichkeit der Welt konfrontierte, aber nicht an ihren Grundfesten rüttelte. Außer an diesem einen Abend in Berlin, an dem Gestern und Heute, aufgezeichnete Bilder und Live-Aufnahmen auf den Leinwänden oberhalb des Bühnenbilds miteinander verschmolzen. Die digitale Technik überwindet die Grenzen der Zeit, die für den Menschen unerreichbar bleiben.
Gut ein Jahr später sitzen Kay Voges und sein Dramaturg Alexander Kerlin, der zugleich sein engster Mitstreiter ist, wenn es darum geht, »im Theater einen Ort zu kreieren, der ein Sinnbild der Gegenwart ist«, im Dortmunder Intendanten-Büro. Der schmale, langgezogene Raum wirkt mit dem großen Tisch, der ihn dominiert, eher wie ein Konferenzzimmer. Aber auch das passt zu Voges’ Schauspiel, das heute noch viel mehr als vor acht Jahren auf kollektive Arbeitsstrukturen setzt. Obwohl der Tisch nicht rund ist, drängt sich der Gedanke an König Artus’ Tafelrunde auf. Der Intendant als einer unter vielen. Nur ein großes gerahmtes Foto aus seiner Theater-Film-Inszenierung von Wolfram Lotz’ »Einige Nachrichten an das All«, das Frank Genser und Uwe Schmieder als Lum und Purl, Lotz’ herzzerreißende Widergänger von Becketts großen Vergeblichkeitsclowns, zeigt, verweist auf Voges’ Sehnsucht nach einem Theater, das Grenzen neu zieht und die Wirklichkeit transzendiert.
»Was wäre, wenn es mich nicht nur einmal gäbe?«
Damals, zum Start der Spielzeit 2012/13, hat er das Theater aufgegeben und die Körper der Schauspielerinnen und Schauspieler an die Bilder des Kinos verloren. Ein radikales Tabula-Rasa-Experiment, das es ihm erlaubte, die Bühne und das Theater noch einmal neu zu denken. Die Wiederholungsschleifen des »Goldenen Zeitalters« und die Gleichzeitigkeitserzählungen der »Borderline Prozession«, die digitalen Kreationen in seinen Inszenierungen von Sarah Kanes »4.48 Psychose« und Philip Glass’ »Einstein on the Beach«, der ständige Kampf mit der computergesteuerten Kamera in seiner Live-Film-Version von »Das Fest« haben dort ihre Wurzeln.
Im Rückblick wirken all diese Arbeiten wie Schritte auf einem Weg, der zwangsläufig zu »Die Parallelwelt« führte, einem von Kay Voges, Alexander Kerlin und der Schauspielerin Eva Verena Müller gemeinsam entwickeltem Stück, führte. Dennoch waren es die beiden prägenden Theatertreffen-Erfahrungen und eine andere, beinahe 30 Jahre zurückliegende Geschichte, aus denen die Idee für diese erste Simultaninszenierung an zwei, 420 Kilometer voneinander entfernt liegenden Schauspielhäusern entstand. Als Voges 18 Jahre war, bat ihn seine damalige Freundin, mit ihr einige Dinge aus der Wohnung ihres Ex-Freunds abzuholen. »Also bin ich in die Wohnung gegangen und habe mich erschreckt. Ihr Ex hatte die gleichen Poster an der Wand, besaß die gleichen Schallplatten und hatte die gleichen Bücher im Regal stehen wie ich. Da habe ich mich zum ersten Mal gefragt, was wäre, wenn es mich nicht nur einmal gäbe?«
Vom Tod bis zur Geburt
Um diesen Moment der Erkenntnis, dass wir keineswegs so individuell sind, wie wir es uns selbst gerne einreden, kreist »Die Parallelwelt«. Auf der Bühne des Dortmunder Schauspielhauses wird die gleiche Geschichte erzählt wie im Berliner Ensemble. Die Figuren verdoppeln sich. Allerdings verlaufen die Erzählungen gegenläufig und nicht parallel. Eine »X-Dramaturgie«, wie Voges sagt: »In Berlin wird von der Geburt bis zum Tod erzählt, in Dortmund vom Tod bis zur Geburt. In der Mitte treffen sich die Stränge für die Hochzeit. Es kommt zur Vereinigung. Zwei Häuser spielen zur gleichen Zeit das Gleiche.« Auf beiden Bühnen filmen jeweils zwei Kameramänner das Geschehen ab. Ihr Material wird live geschnitten und dann mit Lichtgeschwindigkeit über Glasfaserkabel in die andere Stadt gesendet, wo es dann auf eine Leinwand projiziert wird. So kann das Publikum in Dortmund sehen, was in Berlin gespielt wird, und umgekehrt.
Der dreidimensionale Bühnenkasten des Theaters wird durch die zweidimensionalen Filmbilder dupliziert. Die materielle Realität verlängert sich ins Virtuelle. Zugleich sehen sich die Figuren auf der Bühne mit ihren Doppelgängern konfrontiert. »Wir schauen aus der Perspektive der Kunst auf die technischen Möglichkeiten, die von Menschen entwickelt wurden«, beschreibt Voges seinen Ansatz. »Die Parallelwelt« eröffnet künstlerische Perspektiven auf verschiedene Phänomene der Digitalisierung. Durch das technisch ermöglichte Zusammenspiel zweier Ensembles über eine beachtliche Distanz kann Voges den Verlust von Identität und Singularität thematisieren, den wir täglich in den sozialen Medien erfahren. Wenn zwei Spieler in Berlin und Dortmund eine Identität haben und doch jeweils behaupten, sie seien realer als ihr digitales Gegenüber, haben sie natürlich aus ihrer Perspektive recht und täuschen sich doch. Individualität wird zum Konstrukt, das sich als Chimäre erweist, oder, wie Alexander Kerlin es formuliert: »Einzigartigkeit gibt es nur noch in einer Minidifferenz«. Dem spürt die Inszenierung nach, wenn die Figuren in der einen Welt versuchen, dem Schicksal zu entkommen, das ihnen die Figuren in der anderen vorgelebt haben.
Neue Erzählweisen
Kay Voges’ große Leitfrage »Wie kann die Digitalisierung für neue Erzählweisen nutzbar gemacht werden?« steht auch hinter der Gründung der »Akademie für Digitalität und Theater«, die vom Leitungsteam des Schauspiels Dortmund betrieben und zur Sparte des Theaters werden soll. »Sie wird auf drei Säulen basieren. Die erste besteht in der Qualifizierung und Weiterbildung des technischen Personals der deutschsprachigen Bühnen. Die zweite wird es Technikern und Künstlern durch halbjährige Stipendien ermöglichen, zu konkreten Fragestellungen von Theater und Digitalisierung zu forschen. Und die dritte könnte ein eigener Studiengang sein, der aber erst zu einem späteren Zeitpunkt eingeführt wird.« So beschreibt Alexander Kerlin das Modell. Seit Anfang 2018 wird die Akademie aufgebaut, die endgültigen Modalitäten stehen noch nicht fest. Aber es gibt schon eine Zusage der Kulturstiftung des Bundes, die von 2019 bis 2021 insgesamt 54 Künstlerstipendien mit einem Gesamtbetrag in Höhe von einer Million Euro fördern wird. Für die erste Säule hat das Theater Dortmund den Deutschen Bühnenverein und die Deutsche Theatertechnische Gesellschaft als Partner gewonnen. »Wir forschen für die moderne Kunst«, sagt Voges. »Die Ausgangsbasis wird nicht Technikverrücktheit sein, sondern künstlerisches Fragen. Denn wir müssen lernen, die digitale Evolution als Menschheitsentwicklung zu sehen, von der wir gesellschaftlich und gedanklich profitieren können.«
Uraufführung am 15. September 2018, www.theaterdo.de/detail/event/die-parallelwelt/