K.WEST: Wird Essen/Ruhrgebiet den Titel Kulturhauptstadt Europas 2010 gewinnen?
SCHEYTT: Wir tun alles dafür. Und ich glaube, wir haben sehr, sehr gute Chancen: Die BRD-Jury hatte uns immerhin auf Platz Eins gesetzt, vor Görlitz. Allerdings wissen wir nicht einmal, wie die Jury besetzt ist. Die Kommission hat uns mitgeteilt, dass wir zwei Namen erst ganz kurz vor dem Termin am 15. März genannt bekommen.
K.WEST: Um Einflussnahme auszuschalten?
SCHEYTT (lacht): Ja.
K.WEST: Was fürchten Sie an Ihrer Konkurrenzstadt Görlitz?
SCHEYTT: Gar nichts, mit solchen Vokabeln behandeln wir uns nicht. Ich kenne Görlitz schon seit 1990 und war immer beeindruckt von seiner historischen Substanz. Die ist es auch, die die Stadt heute in die Waagschale wirft. Das andere ist die Brücke zu Polen, doch auch wir haben Notiz davon genommen, dass das Interesse an der Bewerbung auf der anderen Seite der Neiße – Zgorzelec – nicht so groß ist, wie es nach außen dargestellt wird. Wir wollen mit unserer Bewerbung den Schritt zu einer europäischen Kulturmetropole tun. Insofern bespielen wir ein anderes Feld als die Görlitzer. Ich habe gehört, dass in Görlitz 560 Polen leben – im Ruhrgebiet wohl eher 5600. Wir sind eine Migrationsregion mit großer Einwanderungsgeschichte, hier leben 600.000 Menschen mit nichtdeutschem Pass, davon 260.000 aus der Türkei.
K.WEST: Die Bewerbung Essen/Ruhrgebiet wirbt mit bunten Bildern vom friedlichen Miteinander der Kulturen. Stehen wir nicht mittlerweile ganz woanders – Stichwort Karikaturenstreit? Wird da nicht in der Bewerbung kräftig verharmlost?
SCHEYTT: Wir betonen, dass wir im Ruhrgebiet besondere Fähigkeiten für einen toleranten Umgang miteinander entwickelt haben. Zwischen 1870 und dem Zweiten Weltkrieg sind vier Millionen Einwanderer gekommen, um Arbeit zu finden. Die Arbeit hat die Menschen verbunden. Heute ist die Situation eine andere, nicht jeder, der hier ist, findet Arbeit, im Gegenteil. Gerade bei den Migrantengruppen haben wir einen höheren Anteil von Arbeitslosigkeit, aber auch von mangelnder Bildung. Als Bildungs- und Jugend-Dezernent der Stadt Essen sind mir diese Probleme sehr bewusst. Für mich ist immer wichtig, auf der einen Seite das Verbindende zu sehen, das sind die kulturellen Werte Europas. Auf der anderen Seite gibt es aber auch Verbindliches, zum Beispiel die deutsche Sprache. Die muss gelernt werden, schon im Kindergarten, damit in der Schule keine Nachteile entstehen. Hier war die deutsche Politik in der Vergangenheit viel zu tolerant. Im europäischen Austausch mit unseren Partnerstädten – die erste Konferenz dieses »TWINS« genannten Projekts fand jetzt statt – wollen wir erfahren, welche Modelle der Problemlösung die anderen haben. Ich glaube aber, dass das Ruhrgebiet da ziemlich weit ist, was die Frage der Integration anbelangt. Das ist auch der Vorteil der sozialräumlichen Dezentralität, wo eben ortsnah mit dieser Problematik umgegangen werden kann. Beispiel: Jahre bevor der Choreograf Royston Maldoom durch die Arbeit für den Film »Rhythm Is It!« mit Simon Rattle in aller Munde kam, hatte er längst in Duisburg Tanzworkshops mit Jugendlichen in sozial benachteiligten Stadtvierteln abgehalten. Ich will damit nicht sagen, dass wir alle Probleme gelöst haben, im Gegenteil, wir werden das im Kulturhauptstadt-Jahr thematisieren, und ein Medium, um damit umzugehen, ist eben die kulturelle Bildung.
K.WEST: Zur Normalität des Ruhrgebiets gehört die Zerstrittenheit seiner Städte. In Sachen Kulturhauptstadt war sie auf einmal weg. So was geht doch nicht mit rechten Dingen zu. Wo sind Essens Feinde geblieben?
SCHEYTT: Es ist tatsächlich so, dass das Ruhrgebiet bei dieser Bewerbung ganz anders arbeitet als noch vor Jahren. Das ist nicht vom Himmel gefallen. Die gedankliche Vorbereitung dieser Entwicklung sehe ich 10 Jahre zurück, zum Abschluss der IBA, bei der ersten Kultur Ruhr, bei der Erfindung der RuhrTriennale. Seit Anfang der 90er Jahre überlegen wir, wie wir gemeinsam Kulturarbeit im Ruhrgebiet gestalten können. So sind ChorWerk Ruhr, Jazzwerk Ruhr, Tanzlandschaft Ruhr entstanden. Alles unter Beteiligung der Kulturdezernenten – wir haben immer stärker gemerkt, dass wir ganz andere Potenziale entwickeln, wenn wir zusammengehen. Schließlich haben 2001 sechs Dezernenten des Ruhrgebiets sich entschlossen: Wir bewerben uns für die Kulturhauptstadt. Es ist richtig, dass zunächst manche Städte gesagt haben, damit werden wir nicht erfolgreich sein. Jetzt kommt immer mehr Zustimmung, nicht nur von den Städten, sondern vor allem auch von den Bürgern und der Wirtschaft. Die sogar in einigen Fällen die Politik zu mehr Handeln drängt.
K.WEST: Wenn Essen den Titel erhält, wird dann der Streit wieder losgehen – darüber, wer die dicksten Brocken bekommt?
SCHEYTT: In dem Moment werden natürlich Künstler und Städte rufen, sie möchten dabei sein. Das ist auch gut, so wird es einen Wettbewerb der Ideen und Projekte geben. Nur haben wir in der Bewerbungsschrift sehr deutlich gesagt, mit welcher Programmatik wir die Kulturhauptstadt gestalten wollen. D.h. es haben dann auch nur die Dinge eine Chance, die sich daran orientieren. Das gibt mir Gelegenheit, meine Auffassung zu bekräftigen, dass hier zunächst kein Intendanten-Modell in Frage kommt: Ein Intendant würde seine eigenen Vorstellungen verwirklichen, das wäre seine Aufgabe. Wir haben es hier aber mit einem Programm zu tun, das aus der Region entwickelt wurde, von vielen erdacht, von fachlich versierten Mentoren betreut. Eine Gemeinschaftsleistung der Köpfe der Region. Selbstverständlich werden wir bei der weiteren Entwicklung auch Leute von außen gewinnen, mit europäischem Background.
K.WEST: So wie Sie es gerade schildern, könnte man annehmen, das Ruhrgebiet kann die Kulturhauptstadt ganz aus sich heraus machen. Ein Intendant wäre nicht nur an die Inhalte der bestehenden Bewerbung gebunden, sondern müsste auch mit dem künftigen Triennale- Intendanten auskommen, einem wichtigen Kooperationspartner der Kulturhauptstadt. Als Nachfolger von Jürgen Flimm ist Marie Zimmermann im Gespräch.
SCHEYTT: Wenn Sie sich die Programmatik der Bewerbung anschauen – den urbanistischen Ansatz, der tief ins Räumlich-Architektonische, ins Baukulturelle führt, an die Nahtstelle von Stadt und Kunst –; wenn Sie die Infrastrukturprojekte wie Zollverein sehen – wir wollen ja als Kulturhauptstadt keine neuen Institutionen schaffen –; wenn Sie das Thema Migration und Interkulturalität nehmen; wenn Sie die Leitprojekte betrachten wie das Fliegende Rathaus, TWINS: Für all das brauchen wir weniger jemanden, der sich in Performing Arts auskennt, als vielmehr jemanden, der mit diesen Räumen umgehen kann, die das Ruhrgebiet ausmachen, mit den Horizontalen – Emscher, A40, Ruhr –, mit der Vertikalen – zweite Stadt, Gasometer. Es geht darum, mit Künstlern und Architekten, Medienkünstlern und Stadtplanern zusammenzuarbeiten. Wir haben im Moment die einzelnen Projekte mit einzelnen Kuratoren besetzt, wir brauchen allerdings eine Person, die das zusammenführt.
K.WEST: Haben Sie jemanden im Auge?
SCHEYTT: Wir sind dabei.
K.WEST: Und wann sind Sie soweit?
SCHEYTT: Sobald wir den Titel formal haben, im November. Die Kulturhauptstadt-Organisation startet wahrscheinlich am 1. Januar 2007, aber ich denke, dass wir die Personen bis dahin haben.
K.WEST: Zur Zusammenarbeit zwischen Kulturhauptstadt und RuhrTriennale…
SCHEYTT: Es wird einen Intendanten der RuhrTriennale geben, eine künstlerische Leitung der Kulturhauptstadt, dann brauchen wir noch eine Jury oder Einzelperson, die die Beiträge der Städte auswählt. Ich denke nicht, dass der Triennale-Intendant auch der Kulturhauptstadt- Intendant sein sollte. Das wichtigste Kooperationsprojekt ist die Triennale, sicher, und deren Träger – das Land vor allem – hat klar gesagt, der neue Intendant oder die Intendantin werden vertraglich verpflichtet, dass das dritte Triennale-Jahr 2010 ein Teil des Kulturhauptstadt–Programms sein soll. Deswegen haben wir im Budget der Kulturhauptstadt- Bewerbung die Triennale mit 16 Millionen als Kooperationsmittel dargestellt. Dieses große europäische Festival wird sich in gewissem Maße darauf einlassen. Übrigens werden auch die Konzerthäuser, Theater usw. der Region mit beitragen, wobei die Kulturhauptstadt aus ihrem eigenen Etat jeweils etwas hinzugeben wird. Denn es macht ja keinen Sinn, als Kulturhauptstadt nur einzuladen, wir wollen ja selber zeigen, was wir sind.
K.WEST: Was bedeutet das für die Organisationsform?
SCHEYTT: Die Aufgabe der Kulturhauptstadt ist, die Region zu entwickeln, bis hin zum Verkehrsverbund Rhein-Ruhr (VRR). Es gibt ja hier haufenweise Gesellschaften, die alle auf die Kulturhauptstadt hin ausgerichtet werden müssen. Deswegen braucht man ein gutes Generalmanagement. Bei all diesen personellen und organisatorischen Fragen lassen wir uns auch von so erfahrenen Kulturmanagern wie Gerard Mortier und Bob Palmer beraten. Palmer war Leiter von zwei Kulturhauptstädten, Glasgow und Brüssel, und hat eine Evaluierung aller Kulturhauptstädte für die EU durchgeführt.
K.WEST: Stärke wie Schwäche des Ruhrgebiets sind seine Dezentralität, Unübersichtlichkeit und riesige Ausdehnung. Wie wollen Sie gewährleisten, dass das Kulturhauptstadtjahr mehr fallen lässt als bunte Farbtupfer in ein graues Meer?
SCHEYTT: Seit der ersten TWINS-Konferenz im Februar bin ich überzeugt, dass wir das in einer Gemeinschaftsleistung schaffen können und diese Leistung von den Städten auch erbracht wird. In dem Umfang, wie TWINS geplant ist – 30 Städte des Ruhrgebiets haben bisher mitgemacht, dazu 100 aus Europa –, könnte es zentral gar nicht organisiert werden. Das geht nur dezentral. Genau so muss die Kulturhauptstadt werden. Das ist der Unterschied zu einem Festival. Kulturhauptstadt ist kein Festival, wer das behauptet, hat das Konzept nicht verstanden. Eine Kulturhauptstadt braucht eine nachhaltig wirkende Strukturentwicklung und -Organisation. Genau so treten wir auch in Brüssel auf, wir möchten gucken, was passiert denn 2011, 2012, wir möchten mit der Kulturhauptstadt einen Prozess nicht nur anstoßen, sondern auch hinterher fortentwickeln.
K.WEST: Glauben Sie, dass man 2010 ein anderes Ruhrgebiet erleben wird, eines das mehr leuchtet, das erkennbarer ist?
SCHEYTT: Es wird auf der europäischen Landkarte erkennbarer sein. Das Bewusstsein, dass hier ein großer Raum ist und nicht nur eine einzelne Stadt, wird wachsen.
K.WEST: Ein nicht unwesentlicher Ort im Jahr der Kulturhauptstadt wird das Ruhrmuseum sein. Die Landesregierung hat zu verstehen gegeben, dass sie an eine Finanzierung des Museumsbetriebs nicht denkt. Wird 2010 die Kohlenwäsche auf Zollverein leer sein?
SCHEYTT: Das Ruhrgebiet hat bisher keinen Ort, an dem seine Geschichte umfassend und nachvollziehbar dargestellt würde. Die hat, wenn man an die Montanunion denkt, durchaus eine europäische Dimension. Alle Beteiligten sehen diese Lücke. Es geht darum, das Gesamtareal Zollverein in Hinsicht auf seine Betriebskosten zu untersuchen. Wenn man das als Ganzes sieht, erkennt man, dass das Ruhrmuseum zum großen Teil schon von der Stadt Essen finanziert wird. Die Stadt ist bereit, die Mittel, die sie derzeit für ihr Ruhrlandmuseum aufwendet, in ein Ruhrmuseum einzubringen. Das Ruhrgebiet und NRW haben es verdient, dass das Weltkulturerbe Zollverein entsprechend leistungsfähig ist. Es gibt die Chance, vom Bund mehr Geld zu bekommen. Die Völklinger Hütte als weiteres Weltkulturerbe erhält 2,5 Millionen jährlich. Da besteht zu den 300.000 für Zollverein eine große Differenz. Angesichts der Bedeutung des Ruhrgebiets wäre das eine nationale Aufgabe. Ich bin also sicher, dass auf Zollverein das Ruhrmuseum realisiert wird.
K.WEST: Wenn Essen den Titel nicht gewinnt – was wird dann aus all den bisherigen Aktivitäten?
SCHEYTT: Wir beschäftigen uns mit diesem Szenario nicht so intensiv. Wir wollen gewinnen. Wenn wir es nicht werden sollten, werden viele der jetzt angestoßenen Dinge nicht zu realisieren sein. Wir brauchen die positive Entscheidung, um den sehr, sehr gut eingeschlagenen Weg fortsetzen zu können. Zu meinen, das Ruhrgebiet bräuchte die Kulturhauptstadt nicht und Görlitz hätte sie nötiger, das ist ein grobes Missverständnis.