Ruhrtriennale-Uraufführung im Landschaftspark Duisburg-Nord: Kirill Serebrennikov widmet sich in „Legende“ dem Künstlerschicksal entlang der Filmbilder und der Gedankenwelt des Sergey Paradjanov.
Die Toten mögen zu Worte kommen, sie sollen ihre Geschichten erzählen. Und schon steigen sie von allen Seiten auf die Bühne, die in der mächtigen Duisburger Kraftzentrale installiert wurde. Mehr ein Verschlag aus Brettern, der, bevor es losgeht, noch schnell einen Anstrich erhält: ein ambulantes Haus mit Ausgucken, Gerüsten und Rampen, in dem Teppiche zu fliegen scheinen, Alte jung werden und Junge alt, Tote auferstehen, Tenöre schmettern, ein Sopran als Einsamer Stern leuchtet und ein Männerchor aus Georgien auftritt. Das Behelfsheim ist also eine Werkstatt für Fantasie, die „das Jetzt auf dem Einst errichtet“, somit ein Palast und Traumschloss.
Der Künstler, heißt es, hebe seine Kindheit auf, stecke sie in die Tasche und zehre von ihr sein Leben lang. Diese Suchbewegung, diese Heimkehr in das unvergänglich Vergangene, sie und das Zwiegespräch mit den Toten bilden den Stoff, aus dem die Träume – schöne und schreckliche – sind, die etwa Homer, Shakespeare und Proust wiedergefunden, Maler gemalt, Komponisten wie Schumann und Mahler in Töne gesetzt, Filmemacher wie Fellini und Bergman gedreht haben. Und Sergey Paradjanov.
Auch er ein Magier des Weltkino, und ein Weltensammler, über den Godard gesagt hat: „Im Tempel des Films gibt es Bilder, Licht und Realität. Paradjanov war der Meister dieses Tempels.“ Siehe, es steht geschrieben. Siehe, es ist Bild geworden: dies die Weisheitslehre von Paradjanov (1924 bis 1990), der sich immer auch in die Meister der Malerei wie Rafael, Leonardo oder Hakob Hovnatanyan aus Tiflis versenkt hat und aufgetaucht ist als sein eigener Kreator mundi. Sein Kosmos entstammt dem armenisch-ukrainischen Kulturkreis, aufgelöst in artifiziell theatralische, der Frömmigkeit geschuldete Tableaus, die erinnern an mittelalterliche Heiligendarstellungen und kostbare Miniaturen. Paradjanov bewegt sich entlang der Frage, weshalb der Künstler das Leiden am Leben und die Torturen der Seele zu erdulden hat, um (sich) zu erkennen.
Kirill Serebrennikov, der ins Exil gezwungene russische Regisseur des Theaters, der Oper, des Kinos, bewundert den in der ehemaligen Sowjetunion beargwöhnten, drangsalierten, verfemten Paradjanov und hat ihm mit Mitgliedern seiner „Friends Company“ und des Hamburger Thalia Theaters diese für die Ruhrtriennale kreierten und uraufgeführten Geisterstunden gewidmet. Eine Hommage.
In zehn „Legenden“ beziehen sie sich freihändig auf Paradjanov und die Natur des Künstlers, sein Rätselwesen, seine Wahrheit und Wirklichkeit – auch etwa während des Luftalarms über Kiew, den sogar die Stimme Gottes ausruft. Denn die akute Gegenwart ist anwesend in diesen ewigen Legenden. Wie bei Stummfilmzwischentiteln auf krisseligem Zelluloid wird manchmal auf Tafeln Übersetzungshilfe eingeblendet und projiziert. Das Filmbild ist Zeitbild und Weltbild. Begleitet werden die – grotesk, obszön und naiv, kurios, schräg und verzweifelt komisch, lässig und lästerlich, in Pathos, Posse und Parodie des Genie-Kults, in Drama und Dramolett changierenden – Episoden von einem verschmitzten Erzähler, der Paradjanov ähnelt und ebenfalls Sergey heißt. Sonderlinge, Randständige, Quergänger, Widerständler, sie sind das Salz der Erde.
So stirbt Massenets Goethe-„Werther“ gleich mehrfach von eigener Hand, wird Jugend das Opfer, singt Verdis „Traviata“ ihr „Addio dell passato“ und betrauert „die Verwandlung von Form zu Asche“, treffen sich nachts im Museum Maler von Dürer aufwärts bis Delacroix sowie die von Velázquez porträtierte „Infantin Margarita“ und sind dabei ichsüchtig, eitel und doch Diener des Schönen. Ein Händler bietet Plunder feil und hat erst Erfolg bei einem Käufer, als er ihm Ruhm verhökert. Der amerikanische Dichter Walt Whitman, auch er ein Verehrter und ein Geschmähter, ruft sein poetisches Prinzip aus: „Ich räche mich an der Welt durch Liebe“, was Serebrennikov auch seinem Idol Paradjanov attestierten würde.
In Beckett-Schwärze vollzieht sich eine grandiose „Lear“-Legende, aus der heraus man sich die komplette Aufführung des Königsdramas wünschen würde. So müssen wir uns begnügen mit der „Sturmheide“ und der Menschwerdung des abgedankten tyrannischen Herrschers (Falk Rockstroh), der in seinem Künstler-Narren den Führer in der Not findet. Während die Theatermittel das grelle Unwetter vor unseren Augen produzieren und die herrliche Karin Neuhäuser Brahms’ Wiegenlied „Guten Abend, gut’ Nacht“ singt, verdichtet sich die Szene zum Ecce homo und zu der heute wie immerdar bitteren Erkenntnis, dass es leicht sei, den Menschen umzubringen.
Kirill Serebrennikovs effektvoll überwältigende Legenden sind parabelhafte Kunst-Bruchstücke, die Überlebenstechniken aufzeigen, die conditio humana beschwören und über allem den Triumph der Schönheit evozieren, den die Aufführung selbst für sich einlöst.
Aufführungen: 18., 20., 21. und 22. August, Kraftzentrale, Landschaftspark Duisburg-Nord