Ist ein guter Choreograf auch automatisch ein guter Ballettchef? Sicher ist: Wenn es nach Intendant Francis Hüser geht, dann wird die Spielzeit 2021/22 am Ballett Hagen ohne einen neuen künstlerischen Kopf ablaufen.
Dafür aber mit drei Gastchoreografen und einer künstlerischen Beraterin und Supervisorin, Gundula Peuthert. 50 qualifizierte Bewerbungen, so der Intendant, hätten ihm vorgelegen. Drei von ihnen will er ab diesem Herbst nun als Gäste einladen. Irritierend ist, dass die neue künstlerische Beraterin Peuthert ebenfalls unter den Kandidaten für den Direktoren-Posten ist.
Ab April wird sie die Kompanie gemeinsam mit der Ballettmanagerin Waltraud Körver betreuen. Mit Chancengleichheit hat das nicht viel zu tun – offenbar eher mit Verbindungen zum Intendanten. Ähnliches scheint für den zweiten Gastchoreografen Urs Dietrich zu gelten: Der 62-Jährige ist ein Vertreter des deutschen Tanztheaters in der Tradition von Ikone Susanne Linke am Theater Bremen – und ein enger Freund der Ballettmanagerin. Der dritte Kandidat wird noch benannt. Seine Aussichten auf den Job dürften ungleich schlechter sein.
Profiteur der kommenden Spielzeit soll laut Theaterleitung das Publikum sein. Auf »eine profilierte Vielfalt künstlerischer Handschriften – also Tanz in all seiner aktuellen Bandbreite« – könne es sich freuen, wie es in einer Pressemitteilung des Theaters heißt. Das kommt allerdings ein bisschen vermessen daher, hat die zeitgenössische Tanzkunst doch mehr als drei Facetten zu bieten. Entscheidend scheint der Zeitgewinn zu sein. Das Ensemble sei sich mit ihm einig, so Hüsers, dass die kommende Saison dafür genutzt werde, eine solide und längerfristige Perspektive für eine neue Ballettdirektion ab der Spielzeit 2022/23 aufzubauen. Die Kompanie habe die Arbeit mit drei Gastchoreografen begrüßt, weil sie auf diese Weise unterschiedliche künstlerische Handschriften kennenlernen könne.
Das leuchtet schon eher ein. Denn ein weiterer Wechsel an der Spitze der Ballettdirektion wäre nicht tragbar. Nach außen und nach innen. Schon, weil eine Ballettkompanie auch eine Psyche hat. Sie muss unter einer starken Persönlichkeit Kraft und Selbstvertrauen aufbauen, zusammenwachsen und Identität entwickeln, um im Rampenlicht hochmotiviert alles geben zu können. Marguerite Donlon hat in der vergangenen Spielzeit erfolgreich mit dieser Arbeit begonnen. Sie hat das Ensemble nach einer schwierigen Phase kurz vor dem Ausbruch von Corona noch stabilisieren können. Die Irin hat neue Formate entwickelt und sich um audience development, also das Generieren neuer Publikumsschichten, bemüht. Wenn die international renommierte Künstlerin, die ein Glücksfall für Hagen war, nun nach Osnabrück abwandert, lässt das auch Rückschlüsse zu. Laut Donlon ist eine Offenheit und Flexibilität seitens der Entscheidungsträger für neue künstlerische Wege und Risiken unverzichtbar.
Das Manko hat Tradition. Enttäuscht und auch wütend war 2016 der langjährige Hagener Ballettchef Ricardo Fernando gegangen, immerhin nach 13 Jahren. Der vor Lebensfreude sprühende Brasilianer hat sich redlich bemüht und sogar den Deutschen Tanzpreis erhalten für »unerschöpfliches künstlerisches und soziales Engagement… trotz mitunter problematischster Rahmenbedingungen«, wie es damals in der Laudatio hieß. Er fühlte sich schon lange ausgebremst, respektlos behandelt und nur noch als »Kostenfaktor«, sagte Fernando im Gespräch mit der Zeitschrift tanz. Sein Nachfolger Alfonso Palencia, eine Interimslösung, ging desillusioniert nach zwei Jahren. Dann kam Marguerite Donlon, die man aber ebenfalls mit nur einem zweijährigen Vertrag, allerdings mit Option auf ein weiteres Jahr, ausstattete – sie nahm schließlich das reizvolle Angebot aus Niedersachsen an.
Ihre Entscheidung mag viele Gründe haben. Aber wenn jemand sich so stark engagiert und dann alles aufgibt, ist das ein Statement. Der Nothaushalt, der seit Jahrzehnten die Stadt finanziell im Würgegriff hat, kann es allein nicht sein. Die Konditionen waren bekannt. Nein, vielmehr war es wohl der ewige Kampf der Tanzsparte an vielen städtischen Theatern, für die diese Kunstform seit Jahrhunderten nur ein Anhängsel der Oper ist. Hagen scheint dafür exemplarisch zu sein. Wer hier ein Ballett leitet, sollte nicht zu viel Ehrgeiz entwickeln. Marguerite Donlon, eine großartige Künstlerin mit Visionen, war von Anfang an eine Nummer zu groß.
Dem Ballett Hagen ist dennoch eine starke künstlerische Persönlichkeit zu wünschen, der es dann eben in der übernächsten Spielzeit gelingen müsste, das Ensemble physisch und psychisch weiter zu festigen. Sie sollte kampferprobt sein. Und in dieser Großstadt auf dem Weg zum Sauerland, die ein Schmelztiegel der Nationen ist, die Tanzkunst mit ihrer Integrationskraft zur Verbindung der Kulturen nutzen.
Was es braucht, ist ein Bekenntnis von Theaterleitung und Politik zur Sparte. Tanzkünstler sind es gewöhnt, aus nichts etwas Schönes zu gestalten, hat Donlon es einmal formuliert. Aber das Umfeld muss Kreativität zulassen – und wollen. Es ist zu wenig, dass man dankbar sein darf, dass die Sparte am Haus überhaupt noch existiert.