Ingrida Gerbutavičiūtė ist Intendantin des Tanzhauses NRW. Zuvor leitete die Tanzwissenschaftlerin, Jahrgang 1983, den Lehrstuhl für Tanz an der Litauischen Akademie für Musik und Theater in Vilnius und kuratierte unter anderem von 2012 bis 2017 das Festival »Litauen tanzt« in Berlin.
»Das Thema Care wird im zeitgenössischen Tanz heutzutage großgeschrieben. Und trotzdem haben wir von der Pandemie viel zu wenig gelernt: Die Hoffnung auf Entschleunigung ist gescheitert. In 2023 heißt es für Künstler*innen im Vergleich zu 2019 immer höher, schneller, weiter… eine Überlebensstrategie der freien Szene, um in Zeiten sich verringernder Ressourcen und angekündigter Kürzungen sichtbar zu bleiben. Dabei lenkt man den Blick schnell auf die Frage der Nachhaltigkeit. Wie wollen wir in Zukunft zusammenarbeiten? Wie nachhaltiger produzieren? Wie unsere Arbeitskulturen gestalten? Wie aktiv die Klimabilanz verbessern und was müssen wir dafür tun? Katastrophen, Krisen und die hiermit verbundene Fragilität des menschlichen Körpers sind im zeitgenössischen Tanz permanent präsent. Gewalt, Machtausübungen, Verdrängungen und normative Wahrnehmungsbilder werden grundlegend hinterfragt. Tanz zeigt hier alternative Handlungsräume auf: Die Szene bietet dem Publikum neue Ästhetiken, neue künstlerische Praktiken und neue Formen der Rezeption an. Das Wirken in die Stadtgesellschaften hinein schafft Zugänge und sensibilisiert für die soziale Rolle des Körpers. Doch wie sieht die Tanzkunst in 20 Jahren aus? Ganz klar im Bereich für junges Publikum. Wenn diese Sparte verstärkt gleichberechtigte kulturpolitische Unterstützung bekommt, konstante Sichtbarkeit in der breiten Öffentlichkeit gewinnt, weiterhin qualitativ gute Arbeit leistet, auch künftig Inklusion, Teilhabe und Partizipation als primäres Ziel für sich setzt, dann bleibt der Tanz eine treibende künstlerische Kraft, die durch diverse Tanzpraktiken, durch das körperliche Engagement, die Gesellschaft positiv verändern wird. Dies alles in der jetzigen und künftigen Tanzrealität, die menschliche Körper und digitale Technologien dynamisch ineinander verwebt.«