»Purge« bedeutet Reinigung, Läuterung. Es ist wohl die Aristotelische »Katharsis« gemeint, die Reinigung der, oder je nach Lesart auch von den Begierden, die die ordentliche Tragödie dem Publikum bringen soll. Soweit ist die Kapverdische Choreographin Marlene Monteiro Freitas allerdings noch lange nicht, sie liefert nur das Vorspiel und das führt tief hinein in die schleimige Ursuppe des Theaters, wo ein gefährliches Gemisch aus Kult und Rausch, Wahnsinn, Sex und Ekstase gährt, Blasen wirft und der Logos von aufsteigenden Fauldämpfen vernebelt wird.
Breit und mit wenig Tiefe ist die Bühne, vor der leuchtenden Rückwand bekommt alles etwas Schattenhaftes. Wie ein Fries wirkt das. Ein schon beim Einlass sehr belebter allerdings. Zwischen Notenständern und Mikrofonen staksen die Performer*innen mit aufgerissenen Augen und maskenhaften Grimassen herum, mit Trillerpfeifen bewährt, in der Mitte eine Göttin oder Königin mit goldener Haube, Wattepads auf den Augen und im Mund und einen zum Dreizack geformten Notenständer wie ein Zepter schwingend.
Bloß keine Ohrenstöpsel!
Von der Tribüne herunter tönen fünf Trompeten. »Bacchae« ist laut. Und tunlichst sei angeraten, das Angebot von Ohrstöpseln nicht anzunehmen, denn das akustische Lärmen und die schrille Lautheit der Bilder bilden ein Gleichgewicht, das es auszuhalten gilt. Über mehr als zwei Stunden zeigt Freitas eine Orgie der Bilder, der Referenzen und des entfesselten Unsinns, der nicht nur für die Performer*innen erschöpfend ist.
Wir erfahren, dass ein Notenständer alles sein kann. Er ist eine Forke und ein Gewehr, eine Schreibmaschine und ein Fahrrad, ein Folterwerkzeug und ein Lenkrad. Wir sehen einen merkwürdigen Tanz, der an Sirtaki erinnert, zu Erik Saties erster Gnossienne, ein Arschgesicht hält sich ein Mikrofon vor die – gerade so bedeckte – Vagina, wir hören die Trompeten miteinander diskutieren und kurz danach als Dampfzug davonfahren. Es wird gejodelt, Oberton- und Kehlkopfgesang ist zu hören, zwischendurch hämmern die Beats und ganz zum Schluss taumelt alles mit Ravels Bolero in den finalen Wahnsinn – mit Kastagnetten. Warum, zum Teufel, hat Ravel eigentlich in seiner Komposition die Kastagnetten vergessen? Gummipömpel werden zu Brüsten und Trommelstöcke zu Genitalien, die Dämpfer der Trompeten zu Eistüten.
Dann dampft kurz die Nebelmaschine
Vier Ventilatoren am Bühnenrand gehen an und gleich wieder aus, auch das Licht geht zwischendurch für Sekunden aus, mal flackert ein Stroboskop und dann dampft kurz die Nebelmaschine. Die Grimassen der Performer*innen sind vielleicht aus dem Expressionismus herübergeschwappt oder die Masken der griechischen Tragödie. Die umgekehrt vor das Gesicht gedrückte Trompete könnte ein Bild von René Magritte sein und die Schreibmaschinenszene von Jerry Lewis.
Marlene Monteiro Freitas’ »Bacchae – Prelude To A Purge« ist irre und hemmungslos, erschöpfend in der Vielzahl von verrückten, albernen, mit Bedeutung aufgeladenen und manchmal auch ekeligen Ideen. Es ist ein entfesseltes Fest für das Theater des Rausches, für das nicht eingehegte Spielerische, ein großes, überwältigendes und schweißtreibendes Pädoyer für das Dionysische, eine Tour de force des Archaischen.
25. und 26. Oktober im Tanzhaus NRW Düsseldorf