Der Körper der anderen – er birgt Gefahrenpotenzial in Pandemiezeiten. Ein Lächeln, ein Händedruck, Ellenbogenkontakt oder doch eine Umarmung? Begegnungen beginnen neuerdings mit einem sekundenschnellen Gedanken: »Wie begrüßen wir uns?« Physische Rituale hat Corona infrage gestellt. Ingrida Gerbutaviciute, die neue Intendantin am Tanzhaus NRW in Düsseldorf, überschreibt ihre erste Spielzeit mit der auch metaphorisch gemeinten Frage »May I hug you?«, »Darf ich Dich/Sie umarmen?«
Die Litauerin (39) mit einem Faible für schräge Frisuren möchte denn auch ihr erstes Programm als eine künstlerische Umarmung verstanden wissen. »Wir wollen gesellschaftliche Diskurse näherbringen, Distanz aufbrechen, komplexe Themen persönlicher machen – all dies und vieles mehr, als eine Institution mit vielen und für viele«, schreibt sie im Vorwort zur Spielzeit 2022/23. Bereits beim Eröffnungswochenende vom 16. bis 18. September setzt die Tanzwissenschaftlerin, Dramaturgin und Kuratorin ihre Akzente auf die aktuellen Themen unserer Zeit, wie sie es bei ihrer Wahl vor einem Jahr ankündigt hatte.
Es geht um die Fragilität des menschlichen Körpers, um Ökologie, Nachhaltigkeit, Inklusion und kulturelle Integration. Die Nationalität der Kompanien – zumindest der, die im September zum Auftakt zu erleben sind – weisen geografisch zunächst in ihre Richtung – Nord- und Osteuropa. Kein Wunder, leitete Gerbutaviciute doch zuvor diverse Festivals und Plattformen in Litauen und Berlin. Zudem hatte sie fünf Jahre lang den Lehrstuhl für Tanz an der Litauischen Akademie für Musik und Theater in Vilnius inne. Über die gesamte Saison betrachtet, werden dann allerdings internationale Ensembles aus allen Teilen Europas in Düsseldorf zu Gast sein.
Fragt man die neue Chefin, die im Gespräch sehr sympathisch rüberkommt, nach einem programmatischen Highlight ihrer ersten Saison, überlegt sie keine Sekunde: Elle Sofe Sara. Sara ist Choreografin und gehört dem indigenen Volk der Sami an, die im Norden Europas leben und früher etwas abschätzig Lappen genannt wurden. Der Gesang dieses islamischen Volkes ist ein zentrales Element des Stückes, das den Titel »The answer is land« trägt.
Musik und Klang sorgen hier für eine emotionale Verbindung mit den besungenen Menschen, Tieren und Naturphänomenen. So entsteht ein Bezug zwischen den Performer *innen und dem Publikum, das auf seine eigene körperliche Präsenz aufmerksam gemacht wird. Ingrida Gerbutaviciute: »Es ist ein wunderbares Stück. Ich habe es zweimal live erlebt und beide Male geweint. Drei Tänzer*innen und Sänger*innen sind auf der Bühne, alle tanzen, alle singen. Es geht um Natur, Umwelt und ganze Lebensgeschichten.« Das Stück wird am Eröffnungswochenende gezeigt.
Das Motto »May I hug you?« durchzieht die gesamte Spielzeit wie ein roter Faden. Dabei steht das physische Erleben im Mittelpunkt. »Wir fragen uns zum einen, wie nach der Pandemie jeder mit der eigenen Körperlichkeit umgeht und zum anderen, wie die eigene Körperlichkeit in Bezug zu anderen Menschen und zur Gemeinschaft steht,« erläutert Gerbutaviciute. Die Programm-Macher gehen noch einen Schritt weiter: Wie verhält sich der menschliche Körper zu den Naturelementen, Tieren, Dingen und sogar der Digitalität? So bringt der portugiesische Choreograf André Uerba auch Physik mit ins Spiel. Er denkt in seiner Arbeit »Burn Time« darüber nach, was heutzutage eine Choreografie sein kann – auch eine Flamme kann schließlich tanzen.
Im Fokus steht auch unter der neuen Intendanz die Tanzszene Nordrhein-Westfalens. In diesem Jahr entwickeln Ben J. Riepe, Fabien Prioville, Hartmannmueller, Takao Baba und Alexandra Waierstall neue Produktionen am Tanzhaus NRW. Ein Pilotprojekt gibt es in der Akademie: Tanzkurse für Menschen mit Alzheimer oder Demenz. Die bereits seit einigen Jahren existierenden Angebote für Parkinson-Patienten haben sich sehr gut bewährt, deshalb werden die Klassen im Bereich »Tanz & Gesundheit« erweitert. Für das Alzheimer-Projekt geht das Haus eine Partnerschaft mit dem Scottish Ballet ein. Gerbutaviciute: »Dort gibt es die Expertise.«
Auch an die Kleinsten ist gedacht. Die Altersgruppen im Bildungsbereich werden gestreckt: tänzerische Früherziehung für Kinder ab zwei Jahren sowie Kurse und Workshops für Kindergartenkinder, die spielerisch Hip-Hop tanzen. Gut investiert – schließlich sind die Mini-Hip-Hopper das Tanz-Publikum von morgen.