Demis Volpis »Geschlossene Spiele« ist ein Statement: Das Repertoire des Ballett am Rhein wird unter seiner Direktion stilistisch bunter und jünger. Das bedeutet gleichzeitig, dass die (Neo-)Klassik und das klassische Erzählballett eine untergeordnete Rolle spielen werden. Was der Chefchoreograf da als sein erstes Handlungsballett vorstellt, ist vielmehr eine einstündige, surreale Collage. Volpi sagt es so: »Es ist ein Handlungsballett ohne Handlung.« Der 36-Jährige greift sich mit Julio Cortázar einen Schriftsteller seiner argentinischen Heimat und liefert slapstickhaftes Tanztheater.
Cortázar (1914-1984) war schon als Kind in die Fantasie-Szenarien von Jules Verne und Edgar Alan Poe geflüchtet. Er sollte zum führenden Vertreter des magischen Realismus‘ werden. Nun avanciert der Autor zum Ballett-Librettisten: Volpi kreiert auf der Grundlage seines Theaterstücks »Nada a Pehuajó« seine neue Produktion. Das Schauspiel, angesiedelt in der Zeit der Militärdiktatur Argentiniens, verhandelt darüber, ob ein Mensch über das Leben eines anderen entscheiden darf. Volpi macht sich darauf seinen eigenen, bewegten Reim.
Die Gesellschaftsparabel spielt in einem etwas angestaubten argentinischen Lokal mit Postschalter, Klavier und Radio. Ein mysteriöser, weißer Mann mit Melone (Orazio Di Bella) schiebt Pfeffermühle und Salzsteuer wie Schachfiguren hin und her – vielleicht die Schlüsselfigur zum Stücktitel: Unter »Geschlossenen Spielen« versteht man im Schach eine Eröffnung, bei der die Linien erst spät aufbrechen. Auch in Volpis Tanzstück wird die gesellschaftspolitische Dimension erst spät klar. Er überzeichnet den Auftritt jeder Person zum Ereignis. Zwei exzentrisch aussehende Kellner mit Dalí-Schnauzbärtchen schieben sich seitwärts mit kleinen Fußbewegungen in den Raum. Ein Kunde, der Gepäck aufgeben will, biegt seine Gliedmaßen durch, als wäre er aus Knetmasse. Das Gepäck taucht kafkaeskerweise immer wieder auf der anderen Seite des Raums auf. Die amerikanische Touristin, die kein Wort versteht, erfährt eine Verwandlung vom Cowgirl zur Ballerina.
Die von Leichtigkeit geprägte Stimmung kippt, als der querulante Herr López darauf besteht, das lebendige Suppenhuhn zu verspeisen. An dem Tier entzündet sich Cortázars gesellschaftspolitisches Thema über Recht und Unrecht. Volpi gelingt es, aus der Witzfigur des Huhns, ein Tänzer mit gerupftem Hähnchen als Kopf, ein berührendes Opfer zu machen. Wenn es nach einem Solo in Anlehnung an »Der sterbende Schwan« resigniert seinen Kopf in den Teller des Gastes legt, lacht niemand mehr.
Im Mittelpunkt steht der autoritäre Richter. Niklas Jendrics ist das schlechte Gewissen in Person. Bedrohliche Paukenschläge begleiten seine Auftritte. Der Nachrichtensprecher im Radio berichtet von einem Todesurteil gegen einen Mann, das am Ende trotz dessen Unschuld vollzogen wird. Die bildliche Schlinge um den Hals des Richters wird immer enger, die empörte Gesellschaft rückt ihm auf den Leib. Volpi lässt sich einiges einfallen: Aus dem hoch in der Wand angebrachten Speisenaufzug sieht der Richter einen Kellner am Galgen baumeln. Seine Kontrolliertheit gerät zur Farce: Die Autorität in schwarzer Robe windet sich hin und her. Endlich wird die politische Dringlichkeit des Dramas spürbar. Die willkürliche Justiz ist demaskiert. Als Farbtupfer im Repertoire ist das Kurzstück eine Abwechslung – wenn auch inszenatorisch und tänzerisch nicht alles überzeugt. Ob man sich Sorgen machen muss um die klassische Ballett-Tradition des Hauses, wird sich zeigen.
Bis 28. Dezember im Opernhaus Düsseldorf; www.operamrhein.de