In tausende Teile zerfetzt. Die barocken Altargemälde schienen für immer dahin, nachdem am 17. Januar 1945 eine Sprengbombe durchs Dach des Paderborner Domes geschlagen war. Immerhin hat man sich damals die Mühe gemacht, die traurigen Reste aufzufegen, einzupacken und in Kartoffelregalen einzulagern, wo der Domprobst sie erst zu Beginn der 1980er Jahre wiederfand. Es sollten noch einige Jahrzehnte vergehen, bis Restauratoren sich ans Puzzeln begaben. Ihre erwartungsgemäß etwas lückenhafte Rekonstruktion des riesigen Hochaltargemäldes »Anbetung der Hirten« von Antonius Willemssen nimmt das Diözesanmuseum Paderborn jetzt zum Ausgangspunkt für eine neue große Ausstellung – von der Art, wie man hier in den vergangenen Jahrzehnten so einige sah.
Mit dem kaum bekannten Namen Willemssen und einem geflickten, fototechnisch aufbereiteten Gemälde wäre kaum der gewohnte Publikumserfolg zu erzielen, das hat man sich sicher auch im Diözesanmuseum gedacht und das Thema deshalb viel weiter gefasst, so dass unter anderem auch Peter Paul Rubens Platz hat – mit gut 20 eigenhändigen Werken und etwa noch einmal so vielen Kopien oder Werkstattarbeiten. Ein Coup, der sich plausibel begründen lässt. Denn Antonius und sein ebenfalls in Paderborn tätiger Bruder Ludovicus gehörten zum Umfeld des barocken Malerstars in Antwerpen. Die beiden Willemssens haben sich nachweislich einiges abgeguckt von Rubens und seinen damals ganz neuen und extrem angesagten Stil nach Westfalen getragen, wo man jetzt mit dem verheißungsvollen Ausstellungstitel: »Peter Paul Rubens und der Barock im Norden« aufmacht.
Rubens‘ Selbstporträt aus Siegen
Eigentlich wäre die Schau längst im Gange, und das Museum wahrscheinlich voll. Doch Mitte Juni ist hier alles dicht und still. Der Aufbau zieht sich hin, denn noch dürfen Werke und Kuriere nicht uneingeschränkt reisen. Bis Ende Juli, so hofft man, kann alles vor Ort sein und die Ausstellung mit zwei Monaten Verspätung eröffnen.
Nicht weit hat es Rubens’ Selbstporträt aus Siegen. Es zeigt den Künstler mit Ende 40 als gemachten und modebewussten Mann von Welt mit großem Hut. Zum Hofmaler der spanisch-habsburgischen Erzherzöge Isabella und Albrecht hatte der in Italien geschulte Malerheld es gebracht und konnte sich vor Aufträgen kaum retten. Alle wollten seine Bilder – Bürger, Adel, Könige. Kirchen und Klöster natürlich auch: Im Zuge einer schwungvollen Gegenreformation wurden sie überall in den spanischen Niederlanden gebaut und wollten geschmückt werden. Am liebsten mit Bildern, die den Betrachter ergreifen und mitreißen, die ihn die Heilsgeschichte miterleben und miterleiden lassen. Da kam Rubens als Spezialist für große Gesten, dramatische Effekte und erregte Szenarien gerade recht.
Er war ständig ausgebucht, obwohl ihm eine Schar von bis zu hundert eifrigen Jungmalern zur Hand ging. Rubens hatte sein Haus in Antwerpen zu einer regelrechten Malmanufaktur ausgebaut. Im Großeinsatz waren Meister und Mannschaft etwa bei der Ausstattung der neuen Antwerpener Jesuitenkirche. Paderborn kann wunderbare Ölskizzen zeigen, die den heute zerstörten Deckengemälden dort vorangingen. Sie vermitteln einen sehr unmittelbaren Eindruck von Rubens’ gestalterischem Verfahren – von der Art und Weise, wie er mit raschem Pinselzug seine Formen und Figuren umreißt und in Bewegung setzt. Schwungvoll und faltenreich umweht das helle Kleid etwa den Körper der Heiligen Lucia. Ihr Kopf liegt im Nacken, während der muskulöse Henker ihr mit dem Schwert an die Kehle geht. Der Position des Deckenbildes trägt Rubens Rechnung, indem er die Gestalten in Untersicht zeigt und perspektivisch stark verkürzt, was die Dynamik noch steigert.
Ein gutes Beispiel für Rubens’ Überwältigungskunst wird in Paderborn auch die »Beweinung« bieten: Das Heilige scheint nicht enthoben, sondern dem Betrachter sehr nah. Es sieht fast so aus, als strecke der fahlgraue Leichnam Christi uns seine durchlöcherten Fußsohlen entgegen. Ganz gegenwärtig auch die Mutter Maria, wie sie ihrem toten Sohn eine lange Dorne aus der Stirn zieht und ihren Daumen dabei mit Blut befleckt.
Der damals schon internationale Kunsthandel machte die Neuigkeiten rasch publik in Europa, druckgrafische Reproduktionen kurbelten die Verbreitung an. Eine dritte Möglichkeit des internationalen Kulturtransfers war die Künstlerwanderung – aus den Niederlanden in die weite Welt. Auch nach Paderborn. Als Domkapitel und Fürstbischof dort nach dem Dreißigjährigen Krieg ihren alten gotischen Dom repräsentativ und modern aufwerten wollten, suchten sie sicher ganz bewusst nicht in heimischen Kreisen nach geeigneten Künstlern für das gewaltige Vorhaben. Mehr Prestige versprach der Blick in Rubens’ Richtung – nach Antwerpen. Der Meister selbst war zwar längst tot, doch es gab genügend Schüler und Nachfolger, die in seinem Stil weitermachten. Die Ausstellung zeigt diverse Beispiele dafür, wie niederländische Migranten in den nördlichen deutschen Territorien ihrer Kunst nachgingen.
Die Brüder Willemssen – Antonius der Maler, Ludovicus der Bildhauer – trafen 1655 gemeinsam mit ihren Helfern in Paderborn ein. Nachdem man den Chor freigeräumt hatte und allerlei mittelalterliche Zugaben verschwunden waren, ließen sie dort die mächtige Altartrias emporwachsen – den Aufbau im Zentrum so hoch, dass für ihn das alte Gewölbe aufgestockt werden musste. Ganz nach flämischer Manier arbeiteten alle Gewerke zusammen am großen, ergreifenden barocken Theatrum sacrum. Das szenografische Gesamtkunstwerk ging verloren, doch die mit den Originalfragmenten, alten Fotos und digitaler Hilfe rekonstruierte Malerei kann jetzt zum Start der Schau im Diözesanmuseum zumindest eine Idee davon vermitteln.
Den Weltkrieg überstanden
Vom Gemälde eines Seitenaltars ist ein besonders schönes Stück heil geblieben – der ganze Kopf und ein Teil des Oberkörpers von Maria kommen zusammen und beweisen, dass Antonius sein Handwerk verstand: Goldene zum Knoten gebundene Locken umspielen das Gesicht, um den Hals legt sich eine doppelte Perlenkette. Unter dem Kinn der Heiligen ist noch ein Stückchen Fuß von Christus zu erkennen, dessen Kreuz die kniende Magdalena umfasst. Nach sechs Jahren werden die begabten Gebrüder Willemssen 1661 Paderborn verlassen. Während ihr Vorbild in Westfalen weiterwirkt und Blüten trieb, nahmen sie nun wieder die Arbeit daheim in den Niederlanden auf. Beispielhaft dafür stehen in der Schau fünf Chorgestühl-Figuren von Ludovicus. Wären sie nicht in Stroh gehüllt und im Boden vergraben worden, hätten auch sie den Zweiten Weltkrieg nicht überlebt.
Und so bleiben neben barocker Pracht und Sinnenfreude in Paderborn auch Krieg und Zerstörung präsent. Das gefällt Christoph Stiegemann, der mit der Schau seinen Ausstand als Museumsdirektor gibt. Dabei will er nicht nur an Rubens, an den Barock im Norden und die Brüder Willemssen in Westfalen erinnern, sondern auch an das Ende des Krieges vor 75 Jahren.
Die »Neubewertung des Fragmentarischen« sieht Stiegemann als besondere Stärke des Ausstellungs-Konzepts. Schließlich komme man so einer Grundhaltung der Rubenszeit nahe: Auch der Barock habe hinter der blendenden Fassade die Verwandlung und Auflösung nicht ausgeblendet. Man könnte an all die welkenden Blumen und verlöschenden Kerzen in den Vanitas-Stillleben des Barock denken. An Totenschädel und ablaufende Stundengläser. Im Diözesanmuseum hat man die Sanduhr nun noch einmal umgedreht – das aus Fetzen zu neuem Leben erweckte Altargemälde soll dort zumindest für die nächsten Jahre hängen bleiben.
DIÖZESANMUSEUM PADERBORN, 24. JULI BIS 25. OKTOBER, TEL.: 05251/1251400, WWW.DIOEZESANMUSEUM-PADERBORN.DE