Einen Tag vor der russischen Invasion stellte er sich nackt vor die riesige Mutter-Heimat-Statue in Kiew – und demonstrierte mit einer Performance gegen einen möglichen Krieg zwischen Russland und der Ukraine. Seitdem hat sich nicht nur das Leben von Aljoscha verändert, sondern von Hunderttausenden seiner Landsleute. Leid, Tod, Flucht, das alles beschäftigt den in Düsseldorf lebenden Künstler seitdem ständig – und er reagiert darauf auf seine Art: Aljoscha ist mit seiner Kunst in die Ukraine gefahren, um sie dort auszustellen. Ein Gespräch über seine mutige Kunstaktion, über Hoffnung in hoffnungslos wirkenden Zeiten und die Kraft der Kunst.
kultur.west: Aljoscha, welche Gedanken gingen Ihnen als erstes durch den Kopf, als Sie am 24. Februar von der russischen Invasion der Ukraine erfuhren? Wie es der Zufall will, waren Sie in diesen Tagen in Kiew – um an einer Kollossalstatue zum Gedenken an den Sieg der sowjetischen Streitkräfte gegen Hitler-Deutschland ihre Arbeit zu zeigen. Mit denkwürdigem Titel: »Bioism condemns any violence against humans, animals and plants. The suffering and war must be stopped«.
ALJOSCHA: Obwohl ich innerlich bereits eine ungute Vorahnung hatte, hoffte ich trotzdem irgendwie auf eine friedliche Lösung – auf eine Art Wunder vor dem Absturz in die Dunkelheit des Hasses. Deshalb ging ich auch einige offensichtliche Risiken während meines kleinen Friedensaufstands ein. Die pazifistische Aktion am 22. Februar vor dem Mutter-Heimat-Monstrum bezeichne ich lieber als Friedensintervention, da sie natürlich nicht genehmigt und als nackter Protest für manche Menschen sicher provokativ war. Als am 24. Februar um vier Uhr morgens meine beiden Telefone plötzlich schellten, wusste ich sofort, dass meine bioethische Verbotsbeschwörung vor der »Kriegsgöttin« vergeblich war. Ich bin immer noch sehr traurig über so viel ideologische Verblendung, Aggressivität und Verhandlungsunfähigkeit. Eine weitere Gedankenebene war: Was genau könnte der »Bioismus« in einer solchen Situation ausrichten?
kultur.west: Welches Verhältnis haben Sie zu Russland? Sie wurden 1974 in der damaligen Sowjetunion geboren. Ihr Vater ist Russe, Ihre Mutter Ukrainerin, Sie selbst leben seit 2003 in Düsseldorf.
ALJOSCHA: Mein Verhältnis zu Russland ist sehr komplex. Ich betrachte grundsätzlich alle Staaten als soziale Prozesse — nicht als feste Erscheinungen, eher als Super-Organismen mit bestimmten Eigenschaften und Lebensfunktionen. So gesehen ist Russland weder gut noch böse, sondern leider ständig krank und dazu seit Jahrhunderten mit abartig monströsen Staatsideologien zugedröhnt. Mythologische Lügen und Blendbegriffe wie »geheimnisvolle russische Seele« oder »Leuchtturm der Welt« prägen kleinkarierte, aggressive Dummheit und nationalistische Überheblichkeit. Vom Ursprung her durchaus europäisch, mutierte Russland erneut binnen kurzer Zeit zum antihumanistischen, Hass verbreitenden Weltschrecken. Als Ukrainer wünsche ich Russland eine möglichst rasche Genesung und Besinnung.
kultur.west: Alles schaut in diesen Tage auf Kiew, aber wer spricht von Städten wie Oleksandrija, Pantajiwka oder Wyschnjaky? Gemeinsam mit Ihrer Frau haben Sie sich im März auf eine lange Autofahrt in die Ukraine begeben, um 14 Kinder- und Altenheime aufzusuchen und hier Ihre »Bioismen«-Skulpturen zu zeigen – an Orten, die sonst kaum jemand im Blickfeld hat.
ALJOSCHA: Das Niemandsland hat mich stets fasziniert, weil sich dieses prozesshafte und oft unbegreifliche Staatsleben dort langsamer vollzieht. Ich frage mich immer noch, warum mussten wir unbedingt landesweit und so übergreifend agieren? Vielleicht einfach deshalb, weil wir die größeren Projekte lieben und das Land an sich selbst riesig und unbegreiflich ist. Wir wollten möglichst viel sehen und dabei möglichst viele, gar nicht darauf wartende Menschen etwas glücklicher machen.
kultur.west: Was hat Sie auf die Idee zu Ihrer Aktion gebracht?
ALJOSCHA: Mir war von vorneherein klar, dass ich weiterhin mit Verletzlichkeit, Bioethik und den am wenigsten geschützten Menschengruppen arbeiten möchte. Während im März viele Menschen aus der Ukraine bereits geflohen waren, schickten manche Heime einige Kinder ebenfalls ins Ausland, wo der Kontakt weiterhin durch Online-Unterricht stattfindet. Aber die Lehrer und Pfleger verblieben in Schulräumen. Dazugekommen sind oft eher arme Flüchtlinge, die nicht ausreisen können. Alle diese auch im normalen Leben sich selbst aufopfernden Erzieherinnen und Helfer, die in teilweise leeren Klassen verbliebenen Pädagogen, sie boten ratlosen, aber lebensfrohen »Bioismen« Asyl in ukrainischen Sonderschulen und Heimen, in der guten Hoffnung, dass der Kriegswahnsinn bald ein Ende haben könne. In jeder Schule und jedem Heim gingen die Lehrer mit mir und meinen Skulpturen durch die Räume und überlegten, wo die positive Überraschung am wirkungsvollsten wäre.
kultur.west: Sie haben ihre schwebenden Objekte in Aufenthaltsräumen, Klassenzimmern, Treppenhäusern und Turnhallen installiert. Wie hat sich dadurch ihr Charakter verändert?
ALJOSCHA: Das Erste, was wir wahrnahmen, wenn alles vollbracht war und noch nicht beteiligte Personen die hängenden »Bioismen« zum ersten Mal erblickten, war Staunen, Äußerungen wie »unglaublich«, »wie schön« oder auch »was zum Kuckuck ist das?«. Die altbekannten Unterrichts- oder Aufenthaltsräume wurden plötzlich zu besonderen Plätzen, wo etwas Alienartiges und Offen-Geheimes stattfindet. Eine Tür zum Zukunftsleben und unbekannten Möglichkeiten hatte sich aufgetan. Manche Lehrer baten mich sofort, meine Arbeiten auch bei ihnen zu installieren.
kultur.west: Wie haben die Menschen vor Ort Ihre Skulpturen aufgenommen?
ALJOSCHA: Am Anfang zutiefst erstaunt und ungläubig. Wer, bitte schön, reist in ein Land, aus dem viele fliehen? Und wer will sich mit einem exotisch klingenden Phänomen wie »Biofuturismus« beschäftigen, wenn existenzielle Sorgen und Ängste auf der Tagesordnung stehen? Die meisten Menschen jedoch waren nach einer ersten Phase der Irritation sehr froh und glücklich. Sie erzählten uns stundenlang von ihren Schülern und Schülerinnen. Manche Direktoren gaben uns berührende Gegengeschenke. Manche baten uns um finanzielle Unterstützung: Fünf solcher Spendenkonten haben wir auf unserer Projekt-Webseite veröffentlicht, eine weitere kommt bald dazu.
kultur.west: Wie stark waren Sie selbst und Ihre Frau bei dieser künstlerisch-pazifistischen Mission gefährdet?ALJOSCHA: Natürlich muss man bei einem Projekt dieser Dimensionen mit Widrigkeiten rechnen. Das Land befindet sich im brutalen Krieg, und manche Leute sind auch ohne Konflikte schlicht misstrauisch. So wurden wir zweimal durch bewaffnete Polizisten und Bürgerwehr verfolgt und auch durch den ukrainischen Geheimdienst SBU verhört. In manchen kriegsnahen Orten waren wir konfrontiert mit heulenden Luftalarmen, Explosionsgedonner oder Schießereien. Am Beängstigsten fand ich persönlich die verminten Straßen.
kultur.west: Angesichts des brutalen Krieges, den Putin in der Ukraine entfesselt hat, fühlt sich wohl jeder hilf- und machtlos. Künstlern wird das nicht anders ergehen als jedermann. Welchen Einfluss hat die Kunst in einer solchen existenziellen Situation? Kann Sie überhaupt etwas ausrichten?
ALJOSCHA: Die Kunst als höchste humane Tätigkeit kann vieles reparieren. Als eine tatkräftige und schöpferische Art von Philosophie kann sie sowohl subjektive Wunden und Verletzungen heilen als auch objektiv Zuversicht, Erhabenheit und Visionen schenken. Ich bin fest davon überzeugt, dass die Zivilisation sich trotz mancher verbrecherischen Konflikte weiterhin in eine positive Richtung entwickelt – nicht zuletzt dank der Kunst. Ich hoffe persönlich auf einen weiteren Fortschritt in Richtung einer »Biokratie« anstatt Demokratie, auf eine baldige »United Ecosphere« anstatt UNO. Gemeinsam müssen wir lernen, unsere höchste Gabe, die Fähigkeit, uns unmöglich schöne und unerreichbare Dinge vorzustellen, konzeptionell und praktisch umzusetzen.
kultur.west: Im Bucerius Kunst Forum Hamburg zeigen Sie derzeit eine Installation mit dem Titel »Der evolutionäre Optimismus«. Woher nehmen Sie angesichts der derzeitigen, drastisch angespannten politischen Großwetterlage die Kraft zum Optimismus?
ALJOSCHA: Als Pazifist kann ich nur den bioethischen und deshalb klar optimistischen Entwicklungsvektor für wirksam halten. Die Menschheit steht an der Schwelle zur eigenen Veränderung, hin zu etwas nie da Gewesenem – wir fangen bereits an, uns selbst zur neuen Spezies umzuwandeln. Die biochemischen und genetischen Verbesserungen werden uns nicht nur langlebiger und leistungsfähiger machen, sondern viel glücklicher, rücksichtsvoller. Wer weiß, vielleicht erschaffen wir eines Tages komplett neue Biotope auf noch nicht besiedelten Planeten? Ich hoffe sehr auf unsere Freundlichkeit, Klugheit und Lust zum Komponieren.

Aljoscha
Er ist ein Mann mit Visionen: Aljoscha erschafft mit seinen organischen Zeichnungen, Skulpturen und Installationen eine imaginäre Welt des »Bioismus«, wie er seine Kunst nennt. Die betrachtet er nicht als dekorative Beigabe zur Existenz, sondern buchstäblich als Lebensversicherung. Geboren 1974 als Aleksey Alekseevich Potupin im damals russischen Glukhov (heute Ukraine), kam Aljoscha 2001 als Gasthörer an die Kunstakademie Düsseldorf. Seit 2003 lebt und arbeitet er in der Landeshauptstadt – Heimatort auch der renommierten Galerie Beck & Eggeling International Fine Art, die ihn vertritt. Mit seinen filigranen, futuristisch anmutenden Werken ist er in zahlreichen Privatsammlungen und Museen vertreten.