»Wat unser Oppa wa, Anton, dä is auf Schalke gegangen un hat Espede gewählt, dat iss gezz über fuffzig Jahre her. Und unser Fatter auch auf Schalke, un hatter auch Espede gewählt. Anton, und ich auch auf Schalke, da kannze dich denken, watt ich gewählt happ.«
Mit diesem Zitat aus der WAZ-Glosse »Kumpel Anton« illustrierte der Politikwissenschafter Karl Rohe die gängige, gleichwohl historisch falsche Überzeugung, dass im »roten Revier« die SPD seit jeher eine Vormachtstellung hat – was natürlich nicht stimmt. Eine Rückschau: Nach 1945 war zunächst klar, dass die Partei an die Zeit der Weimarer Republik anknüpfen würde. So konzentrierte sich der Vorstand auf parteiinterne Organisationsfragen. Die alten sozialdemokratischen Milieus sollten wieder aufleben. Insbesondere Erich Ollenhauer beschäftigte sich daher als Vorsitzender vor allem mit dem Parteiapparat und gehörte einem Vorstand an, der sich zu einem großen Teil aus Mitgliedern der ehemaligen »Terrorabwehrstelle« bis 1933 in Berlin zusammensetzte, also einer einst bewaffneten Schutztruppe der Parteizentrale.
Im Gegensatz zu Bund und Land konnte die SPD in einzelnen Großstädten allerdings bereits in den 1950er Jahren Mehrheiten erreichen. In Köln etwa wurde 1956 der Sozialdemokrat Theo Burauen Oberbürgermeister, in Essen im selben Jahr Wilhelm Nieswandt. Der Grund? Die SPD-Funktionäre kümmerten sich als Betriebsräte, Stadtverordnete oder Gewerkschaftsvertreter im Betrieb und im Stadtteil um die Interessen der Menschen – um die Vergabe von Arbeitsplätzen und Wohnungen, Lohnstreitigkeiten und Ausbildungsstellen. Die Ratsmehrheit in den Städten, der Erfolg der SPD in den Kommunen hatte mit ihrer »basisnahen Stellvertretung« zu tun, wie es der Historiker Michael Zimmermann einmal ausdrückte.
Ihr Aufstieg in den Kommunen war also einer pragmatischen Politik vor Ort zu verdanken, während die Partei ansonsten ideologisch auf Klassenkampf und Sozialismus fixiert war. Erst mit dem Godesberger Programm 1959 öffnete sich die SPD und konnte nun auch im Land wie im Bund mehr Wähler überzeugen. 1950 hatte die Partei bei den Landtagswahlen nur 32 Prozent erreicht. Ab Mitte der 1960er zeigte sich dann aber der Erfolg der programmatischen Öffnung: Die SPD erreichte seither Anteile von über 45 Prozent und stellte dann von 1966 bis 2005 die Ministerpräsidenten in NRW. Ein Klischee ist, dass SPD und NRW traditionell seit jeher zusammengehören – bis heute. Darauf verweist auch die Wortmarke NRWSPD, die von der Partei seit einigen Jahren genutzt wird. Aber die SPD hat sowohl ihre Vorherrschaft im Land als auch in vielen Städten verloren. Seit 2000 sinkt ihr Stimmenanteil im Land kontinuierlich, selbst in den Städten des Ruhrgebiets kann sie nicht ohne weiteres Koalitionen dominieren und den Oberbürgermeister stellen.
Zäsur nach 43 Jahren
Woran dieser Bedeutungsverlust liegt? Ein Grund ist sicher in einer Art Realitätsverlust zu suchen, der sich nach den langen Jahren der Machtausübung eingeschlichen hatte. Wieder die Beispiele Köln und Essen: In beiden Städten hatten 1999 überraschend CDU-Kandidaten den Oberbürgermeister-Posten übernommen – eine Zäsur nach 43 Jahren. Das Ende der SPD-Vorherrschaft hatte in beiden Städten konkrete Hintergründe. In Essen war der SPD-Kandidat bereits viele Monate vor der Wahl aufgetreten, als sei er bereits Oberbürgermeister, und hatte etwa Möbel für sein vermeintlich künftiges Büro bestellt. In Köln war die SPD 1999 in eine Spendenaffäre im Zusammenhang mit dem Bau einer Müllverbrennungsanlage verwickelt. Die Zustimmung der SPD mussten sich die beteiligten Firmen über Spenden erkaufen.
Beispiele für eine Arroganz der Macht. »Die SPD war die Partei des ‚Konzerns Stadt‘ und nicht mehr die Partei der Bürger«, schreibt Stefan Laurin in seinem Buch »Beten Sie für uns«, in dem er den Untergang der SPD verhandelt. Fest steht: Ihr Niedergang ist durchaus von solchen Einzelereignissen begleitet worden. Der Bedeutungsverlust der Partei hat aber noch tiefgreifendere Gründe.
Ein Erklärungsversuch ist die Diagnose, die Partei habe ihre soziale Basis, die Arbeiterschaft, aus den Augen verloren. Dabei wurde sie aber gerade erst durch die Abkehr von ideologischer Dogmatik und die programmatische Öffnung mit dem Godesberger Programm für breite Schichten der Bevölkerung über das Proletariat hinaus attraktiv. Sie entwickelte sich zu einer Volkspartei, die für Modernität und Zukunftsfähigkeit stand. »Der Himmel über der Ruhr muss wieder blau werden«, dieser Satz Willy Brandts von 1961 illustriert dies ebenso wie der Kernsatz seiner Regierungserklärung von 1969: »Wir wollen wehr Demokratie wagen!«. In dieser Zeit hatte die SPD großen Zulauf junger Mitglieder, Intellektuelle und Schriftsteller engagierten sich für sie. Die SPD in NRW wie auch in den Städten war attraktiv, weil sie als Motor für Modernität und Fortschritt wahrgenommen wurde. Die Partei förderte die Berufstätigkeit und damit die Emanzipation der Frauen, Gesamtschulen und Gesamthochschulen erweiterten die Bildungschancen breiter Bevölkerungsschichten, die Infrastruktur wurde ausgebaut.
Am 13. Januar 1973 konnte der SPD-Ministerpräsident Heinz Kühn auf dem Landesparteitag der SPD stolz verkünden, dass sich von 1950 bis 1972 der Anteil der SPD-Wähler in NRW von 32 auf 50,4 Prozent gesteigert hatte. Heinz Kühn in seiner Rede: »Die Sozialdemokratische Partei… ist eine vorwärtsdrängende emanzipatorische Bewegung, die ihre Aufgabe in der notwendigen Reform des Bestehenden sieht – und dies auch in Zukunft tun wird.«
Schluss mit dem Gemischtwarenladen
Das Problem: Heute ist sie längst kein Motor für Fortschritt und Modernisierung mehr. Inzwischen ist es völlig unklar, wofür die Partei eigentlich steht. Aus dem Leitantrag des außerordentlichen Landesparteitags am 21.09.2019: »Wir müssen Schluss machen mit dem Gemischtwarenladen und uns auf sozialdemokratische Politik für die arbeitende, soziale Mitte in diesem Land konzentrieren. Kurz: ›ROT PUR!‹ ›Rot Pur!‹ ist ein Prozess, der alle Ebenen der Partei erfassen soll. Es geht um inhaltliche Klärungen, Schaffung neuen Selbstvertrauens der Sozialdemokratie und um eine Kursklärung.«
Dieses Bekenntnis zur Nabelschau und Fixierung auf Organisationsfragen erinnert an die Ausrichtung der Partei in den 1950er Jahren. Das bestätigt sich auch beim Blick auf die Wahlergebnisse: Seit 2000 sinken die Wahlanteile stetig. 2017 erreichten sie mit nur noch 31,2 Prozent der Wähler den Wert von 1950. Erich Ollenhauer lässt grüßen…