kultur.west: Herr Haase, seitdem die Corona-Pandemie zu starken Einschränkungen in unserem Alltag geführt hat, gibt es auch einige neue Begriffe. Was ist an ihnen auffällig?
HAASE: Auffällig ist, dass Sachen, die unangenehm sind, lieber durch andere Ausdrücke ersetzt werden. Als erstes fällt mir da das Social Distancing ein – was an sich ja schon ein Paradox ist. Denn wie soll das zusammen gehen, Soziales und Distanz? In der Sache geht es ja auch gar nicht um soziale Distanzierung, sondern um physische. Also darum, Abstand voneinander zu halten. Im Deutschen würde der Begriff noch schlimmer als im Englischen klingen. Und außerdem soll die Gesellschaft ja zurzeit eigentlich vor allem zusammenrücken und nicht auseinander.
kultur.west: …ja, aber bitte mit Abstand!
HAASE: Ja, genau. Aber das Wort Abstand wird auch nirgendwo verwendet. In letzter Zeit hat sich in unserem Sprachgebrauch so eine Art Krankenhausstil etabliert. Auch in Klinken werden Krankheiten oft nicht benannt, sondern eher tabuisiert oder umschrieben. Oder wir neigen zu Übertreibungen, wenn es um eher nebensächliche Auswirkungen des Virus geht.
Zum Beispiel, in dem wir eine starke Nachfrage nach Klopapier plötzlich als Hamsterkäufe bezeichnen?
HAASE: Ja, das Wort Hamsterkäufe steht ja in keinem Verhältnis zu dem, wie es tatsächlich in den Supermärkten aussah. Gut, es gab zeitweise kein Klopapier. Aber kann man angesichts dessen gleich von Plünderungen sprechen? In Bayern sind die Beschränkungen als Ausgangssperren bezeichnet worden. Aber niemand ist zuhause eingesperrt worden. Und, ja, es gab immer wieder einige Jugendliche, die in Parks zusammenstanden. Aber haben die gleich eine Corona-Party gefeiert? Während man die Krankheit durch Covid-19 sprachlich also eher tabuisiert, werden unbedeutende Randerscheinungen, die das Virus erzeugt, sprachlich aufgebauscht.
kultur.west: Aber der Begriff „in diesen Zeiten“, den man auch oft gehört hat, suggeriert doch eigentlich etwas Schönes: ein Gefühl der Zugehörigkeit. In „diesen Zeiten“ leben wir ja schließlich gerade alle, oder nicht?
HAASE: Ja, das Demonstrativpronomen „diese“ verweist tatsächlich direkt auf uns, unsere eigene Gruppe. Interessant ist aber, wie unterschiedlich Politiker die Bürger in ihren Reden tatsächlich miteinbeziehen. Wenn von „Wir“ die Rede ist, bleibt ja zugleich auch einiges unklar: Wer genau ist damit gemeint? Gilt das „Wir“ auch für die Politiker? Das Wort „Wir“ erzeugt so nur bedingt ein Wir-Gefühl, weil alle Optionen für die Regierung offen bleiben. Interessant ist da, wie Angela Merke zuletzt auf die Bürger zugegangen ist.
In wie fern?
HAASE: Sie hat sehr krasse Maßnahmen kommunizieren müssen. Aber weil sie so krass waren, hat sie an die Eigenverantwortung jedes Einzelnen appelliert. Gerade wenn man heftige Maßnahmen durchsetzen will, ist es klug, sich selbst rhetorisch stark zurückzunehmen.
kultur.west: Ganz im Gegensatz zu der Rede Emanuel Macrons an die Franzosen. Darin hat er den Kampf gegen Corona sogar mit einem Krieg verglichen…
HAASE: Ja, gerade seine Kriegsrhetorik halte ich für problematisch. Denn da kommt es dann sehr schnell zu einer Art rhetorischem Sprung. Dinge, die eigentlich Metaphern sind, könnten tatsächlich als Wirklichkeit angesehen werden. Und dann ist man – zumindest gedanklich – tatsächlich beim Einsatz von Militär.
Auf die Kriegsmetaphorik von Macron gab es unterschiedliche Reaktionen: Einige empfanden seinen Sprachstil als genau richtig, weil besondere Zeiten eben auch besondere Reden erforderten…
HAASE: Ja, aber interessant ist, wie sehr Macron danach rhetorisch umgeschwenkt ist: In seiner zweiten Rede an die Nation hat er sich eher unsicher als superstark gegeben und sehr viele Fragen an seine Zuhörer gerichtet. Die Presse hat von rhetorischen Fragen geschrieben – was sie aber überhaupt nicht sind. Denn rhetorische Fragen sind ja welche, deren Antworten der Zuhörer schon kennt. Macron hat aber auf seine Fragen hin sehr viel offen gelassen. Auch, weil es auf vieles gerade keine genauen Antworten gibt.
Was wollte Macron damit bewirken?
HAASE: Bei seiner zweiten Rede hat er eigentlich noch krassere Ansagen an das Volk als beim ersten Mal gemacht. Wenn die Bevormundung stark ist, muss man entsprechend gegensteuern, damit es keine Gegenreaktionen gibt. Gerade in Frankreich gehen die Menschen ja sehr schnell auf die Straße – wer wüsste das besser als Macron! So hat auch er, wie zuvor schon Merkel, bei der zweiten Rede nicht auf seine Macht als Regierungschef oder die Einschätzung seiner Experten gepocht, sondern stattdessen die Bürger zur Teilhabe aufgerufen. Seine Rede sollte dazu anregen, selbst mitzudenken und verantwortlich zu handeln.
kultur.west: Was wird von der Corona-Krise zurückbleiben?
HAASE: Rein sprachlich betrachtet werden Begriffe wie Social Distancing wieder verschwinden. Aber unsere Aufmerksamkeit, die nun auf dem Thema Viren liegt, wird bleiben. Das werden die Menschen nicht so schnell vergessen. Sie werden sich künftig weniger die Hände schütteln. Und ich glaube, man wird auch künftig noch öfter sagen: Bleiben Sie gesund!
Prof. Dr. Martin Haase kam 1962 in Dortmund zur Welt und lehrt romanische Sprachwissenschaft an der Otto-Friedrich-Universität in Bamberg. Der Romanist und Linguist betreibt mit dem Journalisten Kai Biermann den Blog neusprech.org, der 2011 mit dem Grimme Online Award in der Kategorie „Wissen und Bildung“ ausgezeichnet wurde.Zu den Themen des Blogs haben die Autoren 2012 das Buch „Sprachlügen. Unworte und Neusprech von ‚Atomruine‘ bis ‚zeitnah‘“ im S. Fischer Verlag veröffentlicht (240 Seiten, 9,99 Euro).