Eigentlich ist doch alles klar: Ein Spagatsprung – das ist Ballett, das ist Kunst. Ein Salto aber – das ist nicht Kunst, das ist Gewerbe! So jedenfalls die Tradition. Zirkus ist Kultur, keine Frage, und zahllose Generationen gerade in ländlichen Gebieten sind als Kinder von den Shows des »fahrenden Volks« geprägt worden. Da war dieser Duft von Sägespäne und Pferdeäpfeln. Knallbunte Farben. Hoch unter der Decke eine Akrobatin im Glitzerkostüm. Ein Löwe reißt sein Maul auf – oder nein, das dann eher doch nicht.
Denn seit den 1970er Jahren wächst die Kritik von Tierschutzverbänden an den Shows mit Wildtieren. Und tatsächlich, das Genre verändert sich grundlegend. Zunächst vor allem in Frankreich. Dann aber wird 1984 in Kanada der Cirque du Soleil gegründet, der bald schon weltweit die Idee eines »Neuen Zirkus« verbreitet. Zirkus sei ein Genre, das immer schon die gesellschaftlichen und technischen Veränderungen aufgegriffen habe. Das meint Franziska Trapp, Kulturpoetin und promovierte Zirkusexpertin: »Die wilden Tiere sind im Zuge des Kolonialismus nach Europa gekommen. Die Pailletten entstanden mit der Erfindung des elektrischen Lichts. Das heißt, das Bild des Zirkus wurde immer auch von bestimmten Ideologien geprägt. In seiner Hochphase, zur Zeit der industriellen Revolution, ging es darum, zu dominieren: Der Mensch dominiert die Maschine oder eben Tiere.«
Im vergangenen Jahrhundert verliert die Idee der Übermenschlichkeit dann aber an Attraktivität. Im »Neuen Zirkus« wird nun die Virtuosität genutzt, um Geschichten zu erzählen. Oder, noch ein paar Jahrzehnte später im »Zeitgenössischen Zirkus«, die großen Fragen des Menschseins zu verhandeln. Was aber im Neuen oder Zeitgenössischen Zirkus bleibt, ist die Lust am Risiko: an hochgetunten Körpern, die menschliche Pyramiden bauen oder sich am Seil hoch unter der Decke überschlagen. Die sich Schwerter in den Schlund schieben oder Geschirr jonglieren. Ein falscher Griff und nicht nur eine Illusion zerbirst.
Diese »Ästhetik des Risikos« sei es, die den Zirkus von anderen Darstellenden Künsten unterscheide, meint Jenny Patschovsky, ausgebildete Luftartistin und Vorsitzende des Bundesverbands Zeitgenössischer Zirkus. Denn das gibt es inzwischen: Einen Verband, der sich für die Belange der Artisten einsetzt und es in den vergangenen Jahren geschafft hat, dass der Zirkus endlich nicht mehr als »Gewerbe« deklariert wird, sondern als Kunstform – mit entsprechendem Anspruch auf Förderung.
Denn längst gilt: Der Übergang zu anderen Kunstbereichen, vor allem dem Tanz ist fließend. Ältere Performer, die permanent Orangen jonglieren und dabei die eleganten Paraden aus Pina Bauschs Tanztheater zitieren? Gibt es. Rockige Kerle, die sich selbst durch die Luft schmeißen wie in den Adrenalin-gepushten Choreografien des Belgiers Wim Vandekeybus‘? Klar doch. Ein »Sacre du Printemps« von Zirkusakrobaten? Auch das war erst kürzlich bei den Ruhrfestspielen Recklinghausen zu sehen, bei denen Olaf Kröck einen Schwerpunkt auf das Genre setzt. »Neuer Zirkus ist mutig und experimentell. Es werden keine Nummern abgespielt, die sich erprobt haben, sondern er wagt ästhetisch neue Wege und riskiert damit, nicht immer jedem Zuschauer zu gefallen.«
Voll »Avantgarde« also sind für Olaf Kröck der Neue und Zeitgenössische Zirkus, und ein renommiertes Event wie die Ruhrfestspiele sollen ihm endlich die Popularität verschaffen, die er in Ländern wie England oder Frankreich längst genießt. Dabei muss man gar nicht teure Gastspiele aus dem Ausland einkaufen. Auch in NRW gibt es Gruppen wie das Kölner »Overhead Project«, das mittels Partnerakrobatik die Tanzgeschichte eigenwillig re-enactet oder von der Tragik eines Wrestler-Lebens erzählt. Aber der Moment, wo die Artisten gefährlich nah am Absturz tanzen, der den Zuschauern den Atem nimmt – der bleibt.
Bei den Ruhrfestspielen Recklinghausen:
29./30. Mai: »All Genius All Idiot« der Svalbard Company aus Schweden
1. bis 3. Juni: »Dear Doubts« Eine Revue regret aus Deutschland/Schweden
12. und 13. Juni: »Neuer Zirkus, kurze Stücke«