Als der britische Schreinersohn Philip Astley sich dem Wunsch seines Vaters widersetzte, dessen Betrieb zu übernehmen und stattdessen lieber seinem Pferd Kunststücke beibrachte, ahnte niemand, dass der unfolgsame Junge einmal als Begründer des klassischen Zirkus‘ in die Geschichte eingehen sollte. 1782 trat Astley als Kunstreiter auf in seinem selbst entwickelten Amphitheater. Es war das erste feststehende Zirkuszelt. Die Geschichte des bunten Unterhaltungsgewerbes ist also rund 250 Jahre alt.
Bis heute erlebt sie einen ständigen Wandel: Das Spektrum reicht von Tiernummern, Artistik und Clownerie als ersten Grunddisziplinen über Familienunterhaltung, Poesie und Nervenkitzel bis zum Nouveau Cirque, der ganz auf Tiere verzichtet. Die deutsche Unesco-Kommission nahm den Zirkus im vergangenen Jahr in das immaterielle Kulturerbe Deutschlands auf und erkannte ihn als eigenständige Form der Darstellenden Kunst an. Sie würdigte die Live-Vorstellung als »elementares sinnliches Erlebnis.«
Die Entscheidung der Unesco nimmt das Circusdance Festival 2024 in seinem neugierig machenden, umfangreichen Programm zum Anlass, zeitgenössische und progressive Zirkusformen zu präsentieren, zu diskutieren – und selbst mit Künstler*innen ins Gespräch und in Bewegung zu kommen. Das Latibul-Gelände am Rheinufer im Kölner Norden wird am Pfingstwochenende zur Manege, zum Panel, zur Leinwand, zur Konzertbühne, zum Experimentierfeld für Tanz- und Zirkus-Studierende und zum Zirkus-Garten für Familien.
Unter dem Titel »Re-Inventing Circus« widmet sich das Festival diesmal dem Zirkus zwischen Erbe und Erneuerung. Tim Behren, künstlerischer Leiter, Kurator, Zirkuskünstler und Choreograf, zeigt den Bezug zu anderen Kunstrichtungen auf und macht den Zirkus als kulturhistorisches, soziales und ästhetisches Phänomen sichtbar.
Zeitgenössischer Zirkus und Tanz, die als Circusdance immer im Fokus des Festivals stehen sind sich nahe – immer geht es um Bewegung und um den Körper. Die Eröffnung bestreitet denn auch die gastgebende Kompanie, das Overhead Project von Tim Behren, der sich dem CircusDance verschrieben hat. Seine neueste Arbeit »Blue Print« ist ein bemerkenswerter Pas de deux einer Tänzerin und eines Akrobaten. Sie bewegen sich mit Humor durch menschliche Muster von Zweisamkeit, vermeintlicher Kraft und Schwäche. Dabei kehren Mijin Kim und Leon Börges die Rollen auch um – wer hebt, wer schwebt?
Was Tanz und Artistik eint, ist die Problematik des Alterns. So thematisiert die »Glorious bodies« den alternden Körper. Der belgische Choreograf Piet Van Dycke hat für sechs Akrobat*innen zwischen 55 und 68 Jahren eine Choreografie kreiert, die Zirkusgeschichte sichtbar macht, wie sie sich in den Körper eingeschrieben hat.
Wie radikal interdisziplinär Zirkus sein kann, beweist Laura Murphy mit ihrer aktuellen Kreation »A spectacle of herself«: Zwischen Zirkusperformance, Stand-Up Comedy und Film zeigt sie lässig provozierend Gegensätze in der Gesellschaft auf. Von der gesellschaftlichen Aktualität des Genres zeugt Diana Salles‘ »I killed a man«. Es ist das Zirkus-Solo einer Transfrau, das das quälende Gefühl erforscht, sein früheres Ich ermordet zu haben. Außerdem fragt die Produktion »Sawdust Symphony« (Kollektiv Michael Zandl, David Eisele und Kolja Huneck) keck und ketzerisch: Ist Zirkus Kunst oder Handwerk?
16. bis 20. Mai 2024
Köln, Latibul-Gelände
circus-dance-festival.de