Wenn ein Film »Die Unschuld« heißt, darf man davon ausgehen, dass er auch von Schuld und Schuldigwerden oder von Verdachtsmomenten erzählt. Mutter und Sohn leben nach dem Tod des Vaters allein. Der etwa 12-jährige Mugino (Soya Kurokawa) und Saori (Sakura Ando), die eine Wäscherei betreibt, zünden vor dem Bildnis des Vaters an dessen Geburtstag Kerzen an. Der Abwesende ist besonders auch für den Jungen präsent, lässt ihn nachdenken über die Vorstellung der Wiedergeburt und die Nähe zu einem Mitschüler, Hoshikawa (Hinata Hiiragi), suchen, der wiederum mit seinem rabiaten, in Bars abhängenden trinksüchtigen Vater allein lebt.
Kleine Auffälligkeiten irritieren die Mutter: abgeschnittene Haarsträhnen von Mugino, die vor der Badezimmertür liegen, eine erdige Substanz, die aus seiner Wasserflasche kommt. Eines nachts ist er verschwunden, die Mutter sucht den Sohn und findet ihn irgendwo draußen umherirrend, den fragenden Ruf vor sich her singend: »Wer ist das Monster?« Auf der Rückfahrt kippt er aus dem Auto, verletzt sich am Bein und wird im Krankenhaus untersucht. Auf der CT-Aufnahme ist nichts zu erkennen, aber der Junge glaubt, er habe ein Schweinehirn statt eines menschlichen, so habe einer seiner Lehrer, Herr Hori (Eita Nagayama), zu ihm gesagt und ihn während des Unterrichts geschlagen.
So sammeln sich in dem Film von Hirokazu Kore-eda (Regie) und Sakamoto Yuji, der für das Beste Drehbuch in Cannes ausgezeichnet wurde, Indizien, Spekulationen, Schrecksekunden. Es scheint, als lebten Erwachsene und Kinder separiert und beinahe feindselig miteinander, als sei die Kindheitswelt den Großen verschlossen. Man fragt sich, ob die Kinder sich untereinander mobben, ob im Schulsystem selbst Gefahr lauert oder etwas Ominöses im Gange ist.
Formeln und Floskeln
Die Schule stellt den Vorfall als »Missverständnis« dar, die Direktorin, die gerade ihre Enkelin durch einen Unfall verlor, und ihre Kollegen reden vor Saori in Formeln und Floskeln wie Roboter, verhalten sich unterwürfig, aber fühllos, unberührbar und stur: Sie hätten tote Augen, sagt die empörte Saori.
In einem zweiten Erzählstrang wickelt sich die Geschichte aus der Perspektive von Herrn Hori ab. Das Geschehen stellt sich nun ganz anders dar, ebenso das eigenartige Verhalten des Lehrpersonals, indem es eine Art von Performance für Muginos Mutter und die Elternschaft plant und einstudiert – zum Schutz der Schüler. Im letzten Drittel dann folgen wir Mugino und Hoshikawa, sehen mit ihren Augen und ergründen mit ihnen und durch sie die sich als Irrtümer auflösenden und klärenden Zusammenhänge. Die Dramaturgie von »Die Unschuld« hat etwas von drei sich berührenden, manchmal einander durchdringenden oder sich voneinander entfernenden Kreisfiguren.
Überhaupt zirkulieren Behauptungen, Schlussfolgerungen, Beschuldigungen, Zuschreibungen, so dass es einen schwindelt. Bei allem Fragwürdigen aber bleibt das Verstörendste, den Denk- und Empfindungsraum der beiden Jungen zu erkunden, seine hellen Flecken und die dunklen Winkel und ihre eigenen, verqueren Fantasien, Einsamkeits- und Unglücksgefühle und Lebensängste. Dunkel wie der verrottete Bahnwagen an dem stillgelegten Schienenstrang im Wald mit dem stillen Bach in seinem Bett, der bei einem Unwetter zum gefährlichen Ort hätte werden können.
Der ganz fein gesponnene Film erzählt von Schicksalslasten und was sie mit Menschen machen, von denen wir ein – öffentliches, für die Öffentlichkeit gedachtes – Gesicht kennen, die aber ein zweites geheimes Gesicht haben. Und davon, dass Wiedergeburt auch in einer Freundschaft möglich sein kann. *****
»Die Unschuld«, Regie: Hirokazu Kore-eda, Drehbuch: Sakamoto Yuji, Japan 2023, 120 Min., Start: 21. März.