Elias Canetti schreibt in seinem Hauptwerk »Masse und Macht« auch über die Massensymbole der Nationen, darunter die der Deutschen: »In keinem modernen Lande der Welt ist das Waldgefühl so lebendig geblieben wie in Deutschland. Das Rigide und Parallele der aufrechtstehenden Bäume, ihre Dichte und ihre Zahl erfüllt das Herz der Deutschen mit tiefer und geheimnisvoller Freude. Er sucht den Wald, in dem seine Vorfahren gelebt haben, noch heute gern auf und fühlt sich eins mit Bäumen…«
Das Bild zu dieser von Canetti noch weitergeführten Seelenkunde liefert Fritz Langs Verfilmung der »Nibelungen«-Sage, auch in der Verknüpfung von Mensch und Natur, Wald und Krieg: Der gegürtete Siegfried mit bloßem Oberkörper auf seinem Schimmel verharrt wie ein Standbild. Das Licht fällt schräg von rechts in breiten diagonalen Streifen über säulenhaft mächtige Baumstämme des Odenwaldes – als seien es kommunizierende Röhren – auf den blonden Helden.
Der fünfstündige Stummfilm von 1922/24 in zwei Teilen (Siegfried, Kriemhilds Rache) entstand nach dem Drehbuch von Langs damaliger Ehefrau Thea von Harbou, die nach 1933 in Nazi-Deutschland blieb. Der in Wien geborene Lang, Sohn eines Architekten und einer jüdischen Mutter, der als Junge ein passionierter Karl-May-Leser war, hingegen floh über Frankreich in die USA, wo er in Hollywood seinen Ruhm befestigen sollte. Seine monumentalen »Nibelungen« drehte er nach den ersten zwei seiner vier »Mabuse«-Thriller und vor »Metropolis« und der darauf folgenden düsteren Mördersuche »M«. Sie alle stehen in einer Reihe als Psychogramme deutschen Wesens und deutscher Zustände in der ersterbenden Weimarer Republik, der Krise der Inflation und Auflösung sozialer Struktur und dem Blutschein der aufziehenden NS-Gewaltherrschaft und ihrer perversen Umkehrung von Geschichte.
Dr. Joseph Goebbels irrte, als er dachte, Fritz Lang die Befehlsgewalt über die deutsche Filmindustrie antragen zu können. Er hatte den Aufmarsch der Recken gesehen, hatte das »Ornament der Masse«, wie es Siegfried Kracauer nennt, als Beleg für Langs Gleichgültigkeit gegenüber dem Individuum fehlinterpretiert (Russlands Killer Putin wäre hingegen ein Adressat dafür) und hatte den Kampf Hell gegen Dunkel, West (der Wormser Hof) gegen Ost (Etzels Hunnen) als Ausdruck der eigenen ideologischen Fixierung auf Rasse, das Völkische und den Kampf um Lebensraum missverstanden. Nein, Fritz Lang war zwar fasziniert von der Ordnung stiftenden Macht der Inszenierung und der Symmetrie als Gegenkraft zum Chaos. Doch ahnte er den Schrecken, der vom willenlosen Kollektivkörper ausgeht (erinnert sei an die Schlussszene von »M« knapp vor der Lynchjustiz mit Gustaf Gründgens als Einpeitscher) und von seinem Missbrauch durch einen verbrecherischen Demagogen oder Manipulator. Eine Erlöserfigur sah er nicht in diesem destruktiven Charakter.
Fritz Lang – ein Herr, vornehm, kultiviert, skeptisch – ist der modernste der frühen Klassiker des deutschen (und amerikanischen) Kinos. Dass der Genre-Regisseur, der Bewegungs- und Handlungs-Bilder, Kunst am Bau und Lichtkunst inszenierte, der Abenteuerfilme, Thriller, Musterbeispiele der Schwarzen Serie, Western drehte, besonders auf das französische Kino enormen Einfluss nahm, zeigt nicht zuletzt, dass Jean-Luc Godard in »Die Verachtung« Fritz Lang sich selbst spielen lässt. Langs Lebensthema ist die Macht des Schicksals – insofern fand ihn der Mythenstoff »Die Nibelungen«. Vom mittelalterlichen Heldenlied über Hebbel bis Wagners Tetralogie, Langs avantgardistischem Film oder Patrice Chéreaus Bayreuther Jahrhundert-Ring-Inszenierung ist er die Tragödie der Naivität. Von Verrat, Schuld, Rache, Treue und Treuebruch, fatalem Heroismus, also der ganz große dramatische, geistig politische und moralische Komplex. Heute mehr denn je, so drängend wie nicht mehr seit 1939.