Als Louis Malle in »Lacombe Lucien« 1973 das Tabu der Kollaboration von Franzosen während der deutschen Okkupation behandelte, erschütterte das Frankreich. Die Titelfigur entscheidet sich aus persönlichen Gründen, als Spitzel für die Gestapo zu arbeiten, nachdem die Résistance es ablehnt, den unzuverlässigen jungen Mann aufzunehmen, der in seinem Elternhaus nur noch geduldet wird und der die Missachtung so vergelten will. Als er aber eine jüdische Familie kennenlernt, steht er schließlich vor einem Gewissenkonflikt. Er gehorcht dem ihm innewohnenden moralischen Gesetz, wird zum Beschützer der Verfolgten, aber nach dem Krieg dennoch verurteilt und hingerichtet.
Verrat ist Thema des Films, das Louis Malle noch einmal – sehr persönlich – 14 Jahre später in »Au revoir les enfants« (»Auf Wiedersehn, Kinder«) aufgreift. Der 1932 geborene Industriellensohn verarbeitet in dem Drama eigenes Erleben während seiner Schulzeit in einem von katholischen Priestern geleiteten Internat.
Freundschaft, Verrat und Schuld sind eingebunden in die Erzählung über das Erwachsenwerden, erwachende erotische Gefühle, pubertäre Erregungen und Irritationen. Damit hatte Louis Malle sich schon 1971 in dem ebenfalls autobiografisch grundierten »Herzflimmern« beschäftigt: als wunderbar leichte Komödie. Hier nun, angesiedelt im Winter 1944/45, als emotionales Drama.
Nachdem der 12-jährige Julien Quentin (Gaspard Manesse), der zärtlich an seiner Mutter hängt und sich in die Abenteuergeschichten von Alexandre Dumas und Jules Verne hineinträumt, und sein älterer Bruder François die Weihnachtsferien im Elternhaus in Paris verbracht hatten, kehren sie zurück aufs Land in das Couvent des Carmes. Gelegentlich begegnen den Schülern in dem Dorf deutsche Soldaten oder Julien beobachtet bei einem Restaurantbesuch, wie ein jüdischer Gast nur durch das Einschreiten eines chevaleresken Wehrmachtsoffiziers, der damit Madame Quentin beeindrucken will, vor der Verhaftung bewahrt wird – zumindest für diesen Augenblick.
Kurz darauf wird ein bei Nacht und Nebel angekommener Schüler in Juliens Klasse aufgenommen – der stille, kluge Jean Bonnet (Raphael Fejto). Argwöhnisch nimmt Julien den Neuen zur Kenntnis, zumal der es ihm auf seinem Terrain, ebenso begabt für Literatur und das Schreiben, gleichtut und ihm im Klavierspiel überlegen ist. Was sich fremd scheint, zieht sich an. Jean umgibt ein ihn gefährdendes Geheimnis. Beide Jungen freunden sich an, nicht ohne Neugierde, Misstrauen, Eifersucht. Stärker aber ist das Bedürfnis nach Nähe und ist Zuneigung.
Am Ende ist es der von allen Seiten gedemütigte, malträtierte und wegen Diebstahls entlassene Küchenjunge Joseph – eine Lacombe Lucien-Figur –, der die Gestapo informiert. Der Pater, der Jean versteckt hatte, wird ebenso abgeführt, wie der Junge selbst und einige weitere jüdische Kinder, die hier unter anderem Namen untergetaucht waren und im Schutz der Kirche Obdach gefunden hatten.
Es ist jedoch ein einziger kurzer Blick, der den Gestapo-Kommissar auf Jean aufmerksam macht, während er die Schulklasse inspiziert und kontrolliert: der angstvoll suchende, absichtslos ausgrenzende und stigmatisierende Blick Juliens auf seinen Freund Jean. Gewissermaßen sein ungewollter Judaskuss. Julien wird den grauen Morgen, als Jean und die Übrigen abtransportiert werden – vermutlich in den Tod –, solange er lebt, nicht vergessen. Ein zögerndes Winken ist die letzte Geste, ein Abschiedsgruß, der sich in die Erinnerung einbrennt.