Man sah es ihm nicht an. Wohl aber seinen Filmen, Inszenierungen, Performances, Aktionen, Interventionen. Christoph Schlingensief, geboren 1960 in Oberhausen, gestorben 2010 in Berlin, der charmante, liebenswürdige, bezaubernde, irrsinnig eloquente Mensch, war als Künstler und Künstlernatur des Chaos wunderlicher Sohn. Ein Rasender, aus dem uns antiker Furor entgegenblickte, von seinen Dämonen getrieben und mit einem Sensorium ausgezeichnet und geschlagen, dass ihn empfindsam und obsessiv sein ließ.
Bis heute ist er die unerreicht größte Begabung des deutschen Films nach Rainer Werner Fassbinder (und ebenso produktiv). Schlingensief vereinigte vieles in sich: Fassbinders Erzählkino, experimentelle Formate des amerikanischen Undergrounds, das Erbe des expressionistischen deutschen Films von Murnau und Fritz Lang und das enzyklopädische Wissen seines Lehrers Werner Nekes, des großen Bilder-Magiers und »Augen-Musikers« aus Mülheim an der Ruhr. Wie Fassbinder, wie Alexander Kluge, wie Joseph Beuys war er von der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts imprägniert. Er empfand nicht die Gnade der späten Geburt, sondern deren allerpersönlichste Verantwortung, um »in das Schweigen hineinzuschreien«. Auf kaum jemanden passt der Begriff Geistesgegenwart besser.
Schlingensief, das war das wohlerzogene enfant terrible, der Berliner Volksbühne-Heros, Talkshow- und Freakshow-Dompteur, Biennale-Künstler, Afrika-Wachstumshelfer und Heilssucher, Bayreuth-Regisseur (»Parsifal« mit dem Gral als verwesendem Hasen) und sein eigener Amfortas, der die Krebs-Wunde gezeigt und uns sein Leiden und Sterben ausgeteilt hat wie Christus Brot und Wein, der schwarze Romantiker und konkrete Utopist.
Gedreht in nur 14 Tagen
Von 1984 und seinem ersten Spielfilm »Tunguska – die Kisten sind da« bis zu seiner »Deutschlandtrilogie« (»100 Jahre Adolf Hitler«, »Das deutsche Kettensägenmassaker«, »Terror 2000 – Intensivstation Deutschland«) und darüber hinaus ist das Werk des Düsseldorfer Helmut-Käutner- und des Berliner Konrad-Wolf-Preisträgers, des Goldener Löwe- und Bambi-Gewinners eine anarchische Comédie und Tragédie humaine. Auch er hatte seine Film-Familie, zu der Margit Carstensen, Irm Hermann, Sophie Rois, Alfred Edel, Udo Kier, Bernhard Schütz, Helge Schneider und der einzigartige Volker Spengler gehörten.
»Das deutsche Kettensägenmassaker« von 1990, gedreht in nur 14 Tagen, ist eine Reaktion auf Mauerfall und nationalen Koller. Die garstige Farce gehört ins Genre Horrorfilm, Trash und Splattermovie und spielt mit der Fernsehästhetik-Realität, was ihre politisch prophetische Reflexionskraft nicht ausschließt. Satirisch hellsichtig wird die deutsche Wiedervereinigung als Blutrausch gestaltet. Schlingensief bricht das Pathos von Helmut Kohl und hat ein zärtliches Gefühl für die DDR-Bürger im nun angekommenen Nirgendwo, wo sie geschlachtet werden. So verwurstet er Phrasen, Illusionen und falsche Ideale. Schlingensief ist, abgebrüht und schmerzbewusst, auf seine Weise ein Bruder Hölderlins. Der Westdeutsche, der im Prenzlauer Berg seine Heimat finden wird, schaut unerbittlich auf den historischen Augenblick und seine Folgen, radikal wie Heiner Müller, Rolf Hochhuth und Einar Schleef.
Im Wahljahr 2024 fehlt uns Christoph Schlingensief noch mehr, als er es ohnehin tut. Was ihm zur AfD und rechtsextremen Ausartungen und ihren fatalen Fantasien in seinem dialektischen Scharfsinn und herausfordernd intellektuellen Entertainment eingefallen wäre, hätte unserer trudelnden, gerade mal auf die Bürgerbeine kommenden Republik gut und notgetan.