Während der Ruhrtriennale-Produktion »Eine Kirche der Angst« 2008 in der Gebläsehalle in Duisburg zeichnet Christoph Schlingensief in seine Lebenslinie den nach oben und unten für ihn geltenden Toleranzbereich ein. Übertreten hat er diesen Bezirk oft, hat ihn »zerschlagen«, wie er sagt, nicht nur während seiner Arbeit am »Parsifal« in Bayreuth. Außerhalb dieser Schutzzone konnte er sich selbst zum Fremden und Anderen werden. Sechs Kinder hätten seine Eltern gern gehabt, erzählt er. Sie bekamen nur ihn, Christoph: »Dann bin ich eben sechs Kinder.« Und so sei er Viele geworden. Der Vater drehte Super-Acht-Filme, die manchmal aus Versehen Doppelbelichtungen enthielten. So bekam der Sohn Impulse, nahm früh die Kamera zur Hand und gründete zehnjährig die »Amateur Film Company 2000«, lange bevor er von der Filmakademie München abgelehnt und Assistent von Werner Nekes wurde. Impulse für sein Erforschen dessen, was zwischen den Bildern liegt und wie diese sich schichten, überblenden und ins Mehrdeutige changieren.
Hier liegt ein Ursprung seines kreativen Dilettantismus, der die eigenen Obsessionen transformiert und durch sie hindurch sich hellsichtig macht für kollektive Zwänge, Phantasien und Exzesse. Überforderung erklärt er zum Prinzip. Simulation und das Heraustreten aus ihr ist ihm ein zentraler Begriff. Schlingensiefs Filme sind auf katastrophal komische Weise Heimatfilme – brennbares Material.
Schlingensief (1960-2010) performte an der Volksbühne, im Fernsehstudio, auf der Straße, neben der Wiener Staatsoper (»Ausländer raus« im Container) und im Wolfgangsee, inszenierte mit Aktionen sein »Theater der Handgreiflichkeit« und wurde für das Happening »Tötet Helmut Kohl« von der Polizei abgeführt. Er, zu dessen Getreuen Margit Carstensen, Irm Hermann, Sophie Rois und Tilda Swinton, Alfred Edel und Udo Kier gehörten, der sich auf Beuys und Fassbinder berief und mit Alexander Kluge philosophierte, war der letzte Prinz der schwarzen Romantik. Und vieles mehr.
Als Schmerzensmann und Extremismus-Forscher betrieb er Exorzismus an Deutschland, Hitler und Richard Wagner, an der »Bananen«-Republik der Einheit und ihrer Blutspur des Hasses. Er war der Liebe-Suchende und so sehr Geliebte, der Angst-Getriebene und Angst-Gestalter, der gottbegnadete Metaphysiker, der mit dem Tod lebenslang auf Du und Du stand und auf der Venedig-Biennale die »Church of Fear« errichtete. War der bürgerliche Entertainer-Anarchist, der vom Melodram albträumt, der Apotheker Sohn, der mit mehr oder weniger homöopathischen Dosen vergiftete, um die Menschen zu entgiften. Seine bitteren Pillen darf man Lebenselixier nennen. Als Operateur am offenen Herzen entzündete er Infektionsherde, legte Wundkanäle bloß, diagnostizierte Metastasen am Körper der Gesellschaft – und starb an Lungenkrebs.
Bettina Böhlers Film »In das Schweigen hineinschreien« bildet selbst Synapsen, die auch Christoph Schlingensiefs Kunst prägen: Schaltstellen, Überträger und Modulatoren von Erregungs-Energie. Grandios, wie die Montagemeisterin und Regisseurin Böhler in den zwei Stunden Interviews, Filmszenen, Performance-Situationen, Kunst-Theorie, Horror- und Trauer-Momente, das Private etwa mit seiner Frau Aino Laberenz und Öffentliche, Person und Werk zur Synthese bringt. Wer diesen Film sieht, kommt dem Wahrheitsfanatiker, Widerständler, Wunderknaben und Wahl-Afrikaner Christoph Schlingensief sehr, sehr nahe.
»Schlingensief – In das Schweigen hineinschreien«, Regie: Bettina Böhler, D 2020, 124 Min., Start: 20. August 2020