1983 kam ein Twen mit Wuschelkopf ins Filminstitut der Landeshauptstadt – er trug eine Filmrolle unterm Arm. Es ging um eine Filmreihe für das damals noch sogenannte NRW-Kultusministerium mit neuen Produktionen aus dem Bindestrich-Land. Christoph Schlingensief brachte zu dem Termin seinen ersten abendfüllenden Spielfilm mit: »Tunguska – Die Kisten sind da«. Die Premiere fand dann, grenznah zu seiner Heimatstadt Oberhausen, in Mülheim an der Ruhr statt.
Im Jahr seines zehnten Todestages und im Monat seines 60. Geburtstages veranstaltet das Theater Oberhausen nun das Spektakel »Schlingensief 2020«. Seit September laufen bereits seine Filme, darunter die Trilogie des Jahres 1983, die unter dem Titel »Film als Neurose« neben »Tunguska« noch zwei Kurzfilme enthält. Man könnte sie Schlingensiefs »Dogma« nennen in Anlehnung an Lars von Triers Bewegung. Oder sein »Oberhausener Manifest«, die Gründungsproklamation des Neuen Deutschen Films während der Westdeutschen Kurzfilmtage 1962.
Schlingensiefs Appell zum Befreiungskampf gegen das Gesetz eines filmischen Realismus – »Jetzt wird alles anders!« – bleibt Grundgestus seines stürmischen Werks, das ein ernstes Spiel mit der Wirklichkeit, eine echte Simulation von Wirklichkeit ist: auf der Theater- und Opernbühne, bei Aktionen, Happenings, Interventionen und Performances auf der Straße oder im Wolfgangsee, in Kunstinstallationen, im Fernsehstudio, in Talkshows und Hörspielen, in Deutschland, in Wien und Zürich, am Amazonas und in Afrika.
Überforderung als kreativer Impuls, wie Schlingensief ihn formulierte, wird auch das lange Oktober-Wochenende energetisch aufladen. Schlingensief retrospektiv zu betrachten, verbietet sich immer. Dafür sind und bleiben er und seine Kunst zu akut. So denken auch die Kuratoren des Mini-Festivals Elena von Liebenstein und Raban Witt. Sie wollen ihn spiegeln in Gegenwartsfragen und diese wiederum in seiner Person und seinem Werk, wollen diese Ansichten und Einsichten »in die Stadt tragen und dabei eine Achse bilden zwischen dem Theater und dem Altmarkt«: auf Bühnen, Podien, Leinwänden und im Lichtburg-Kinosaal, in Installationen und Spielformen an Schauplätzen wie dem »Supermarkt der Ideen«, einem polnischen Restaurant, einem extra eingerichteten »Trauerbüro«, in dem sich individuell Gedenkrituale ‚bestellen’ lassen, und natürlich ‚seiner’ Herz-Jesu-Kirche, in der der Apothekersohn mit zweitem Vornamen Maria Messdiener war, die er im Landschaftspark Duisburg für die Ruhrtriennale nachbaute und in der auch die Trauerfeier für ihn stattfand.
Eingeladen zum Festival-Wochenende sind Schüler, die sich als »Superhelden« in Videoclips mit Schlingensief beschäftigen, sowie Künstler, die aus seinem Geist heraus denken und sich assoziativ mit ihm verbinden. So wie auch er Bezüge aufnahm, ob von Beuys oder Valie Export, und sie weiterentwickelte. Dazu gehören der Choreograf Thomas Lehmen und sein »Erstes Oberhausener Arbeitslosen-Ballett« (»Ich mache alles für meine Stadt – auch Kunst«), die Regisseurin Hannah Dörr, die den filmischen Anti-Krimi »Das Massaker von Anröchte« mitbringt, oder ein Filmemacher-Kollege aus Burkina Faso, der dort Schlingensiefs Operndorf-Initiative dokumentiert hat und sie in einer Lecture-Performance vorstellt.
Der Schauspieler Josef Bierbichler sang während der Trauerfreier aus Schuberts »Winterreise«-Zyklus. »Fremd bin ich eingezogen, / Fremd zieh ich wieder aus…«. Christoph Schlingensief konnte befremden, nicht zuletzt er sich selbst in der Selbstkonfrontation, und das Fremde in sich Gestalt werden lassen. »Der Ich kömmt«, heißt es bei dem Romantiker Jean Paul nicht ohne Bangen. Aber Schlingensief blieb einem dabei nicht fremd, schien vielmehr vertraut und kam einem nahe durch seine zugewandte, empathische, Persönlichstes mitteilende und sich selbst aufs Spiel setzende Weise.
Schlingensief 2020, 23. bis 25. Oktober, www.theater-oberhausen.de