Annika Büsings neuer Roman »Wir kommen zurecht« ist gerade erschienen, da wird eine Adaption ihres zweiten Buchs »Koller« im Theater Oberhausen uraufgeführt. Bei der Bochumer Autorin geht es Schlag auf Schlag – ganz wie in ihren realitätssatten und atmosphärischen Texten.
Bei Annika Büsing läuft’s: Gerade wurde ihr neuer Roman veröffentlicht (ihr dritter innerhalb von vier Jahren!), sie hat mehrere Literaturpreise bekommen und Ende März wird ihr zweiter Roman »Koller« am Theater Oberhausen uraufgeführt. Dass sie am frühen Morgen vor unserem Gespräch schon mit einer Paket-Betrugsmasche zu kämpfen hatte, ist schnell kein Thema mehr, wenn sie von ihrer großen Freude über die Romanadaption spricht. »Ich kann das manchmal gar nicht richtig glauben«, sagt sie. Und dass sie riesige Ehrfurcht vor dieser Arbeit am Theater habe. »Die beschäftigen sich mit so viel Liebe mit meinem Text.« 2023 wurde bereits ihr erster Roman »Nordstadt« im Neuen Schauspiel Leipzig uraufgeführt.
Es ist der Tag nach der Konzeptionsprobe am Theater Oberhausen, dem ersten Zusammentreffen aller Beteiligten. Jetzt habe sie eine grobe Vorstellung von dem, was das Team vorhat. Sie hat die Stimmen der vier Spielenden gehört. Sie hat das Bühnenbild-Modell gesehen und sich »ein bisschen verknallt«. Annika Büsing erzählt beinahe berauscht. Es sei schon besonders, wenn das, was man geschrieben hat, zwischen zwei Buchdeckeln landet. Aber wenn daraus dann auch noch ein neues künstlerisches Produkt entstehe, das sei heftig. In die Produktionsarbeit mischt sich die Autorin nicht weiter ein. Sie freut sich über den eigenen Blick auf ihr Werk und schätzt das Theater generell für seine Fokussierung und seine Unmittelbarkeit.
Schonungslos und lebensnah
»Koller« erzählt eine Liebesgeschichte und einen Roadtrip, von Leipzig geht’s über Ludwigsburg und das überflutete Ahrtal bis zur Ostsee. Und es geht nicht weniger durch die Realitäten zweier gegensätzlicher Menschen. Da stoßen der mehr denkende als sprechende Chris und der impulsiv-chaotische Koller aufeinander. Reflexion trifft Intuition. Als Lesende werden wir permanent hin- und hergeworfen zwischen Gefühlswelten und Lebenserfahrungen, zwischen Handlung und Erinnerung. »Der Roman bildet auf sehr bejahende Weise ab, wie verworren, komplex und chaotisch das Leben ist«, sagt Regisseur Jonas Weber. Bühnenbildnerin Marlena Gundlach hat für dieses Abenteuer Leben einen fantastischen Raum geschaffen, ein Paradies, einen Garten Eden als »eine Art Gedankenpalast«, in dem es auch mal Raum und Zeit für Pause und Besinnung gibt.
»Koller« wird in Oberhausen ab 15 Jahren empfohlen, läuft in der Sparte »Junges Theater«. Büsings erster Roman »Nordstadt« wurde unter anderem mit dem Deutschen Jugendliteraturpreis ausgezeichnet. Ein Ausschnitt aus »Koller« war Schul-Prüfungstext. Dezidiert für junge Menschen schreibe sie allerdings nicht, sagt die Autorin. Diese Zuordnungen seien einfach passiert. Vielleicht, weil sie als Lehrerin an einem Bochumer Gymnasium (Deutsch und Religion) permanent im Kontakt ist mit der Lebensrealität von Jugendlichen. Vielleicht, weil sie so direkt, auch mal schonungslos und lebensnah schreibt. Eine ältere Zuhörerin habe ihr im Anschluss einer Lesung erzählt, dass sie sich gewünscht hätte, dass in ihrer Jugendzeit schon so offen geschrieben worden wäre, auch über Sexualität. Das hätte ihr viel Leid erspart.
Annika Büsing schreibt keine unnötig komplizierten Sätze. Sprache solle direkt wirken, sagt sie, wie Musik. Die spielt neben der Literatur eine wichtige Rolle im Leben der zweifachen Mutter. Hardcore Punk, Indie, Rock hört sie, regelmäßig auch auf Konzerten. Musik arbeite ganz viel mit Stimmung und Sinnlichkeit. Das machen ihre Texte auch. Sich intuitiv an einer Idee abzuarbeiten, an einem Riff, einer Melodie – diesen künstlerischen Modus habe sie in vielen Stunden in Proberäumen beobachtet. Und den wendet sie auch in ihrem Schreiben an. »Ich überlege mir keinen Plot«, sagt Büsing. Am Anfang steht für sie meist eine Figur. »Die bringe ich dann in Situationen. Und die trage ich ständig mit mir rum.« Zum Beispiel an der Supermarktkasse. Da frage sie sich dann, was Koller wohl kaufen würde. Wie er bezahlen würde, bar oder mit Karte.

Für ihren neuen Roman »Wir kommen zurecht« gab es zuerst Philipp, fast 18, kurz vor dem Abitur, Sohn eines erfolgreichen Chirurgen und einer psychisch kranken Mutter. Und es gab das Bild der Oldenburger Kommode. Die steht im Haus, in dem Philipp mit Vater Lothar und Stiefmutter Stella wohnt. Mit Schubladen, in denen Handschuhe verschwinden und Schlüsselanhänger mit alten Familienfotos auftauchen. Und mit einer dritten Schublade, »die niemand mehr aufräumte. Straßenkreide in einer eingedellten Plastikbox, Sonnenbrillen, eine Hundeleine, halbleere Taschentuchpackungen, Warnwesten, eine DVD von Philipps Zirkusauftritt in der Grundschule, ein Ladekabel, ein Eiskratzer, ein Gemeindebrief von 2014, ein Plastikfisch (…). Stella wühlte sich durch dieses Sammelsurium und spürte schmerzhaft, dass sie in die DNA einer Familie eingedrungen war. Sie setzte sich auf den Genter Teppich und traf eine Entscheidung, die genauso ein Ende markieren würde wie einen Anfang. / In der Straßenbahn roch es nach Pisse.« In Büsings Büchern folgt detaillierte Beschreibung auf einfühlsame Beobachtung, Ist-Zustand auf angedeutete Analyse in rasantem Tempo, Schlag auf Schlag. Als »Weltverdauung« beschreibt Büsing ihr Schreiben selbst. Klare Worte für große Gedankenräume. Diesmal erzählt sie klassischer, multiperspektivischer als in ihren ersten beiden Büchern. Aber der deutliche Fokus auf ihre erste Figur, auf Philipp, bleibt.
»Koller«, Theater Oberhausen
Uraufführung: 27. März, 1. und 24. April
Annika Büsing: »Wir kommen zurecht«, Steidl Verlag, 288 Seiten, 24 Euro.
Lesungen:
7. März, Janssen Universitätsbuchhandlung, Bochum
11. März, Rathaus Heisingen, Essen
1. April, Altstadt-Buchhandlung, Ratingen
9. April, Agnes-Buchhandlung, Köln