»Ich habe mal eine radioaktive Müllhalde in Minecraft gebaut. Wenn man sie betritt, stirbt man«, erzählt Jona. Der Elfjährige tappt seit drei Jahren mit seinem klotzigen Avatar durch eine virtuelle Welt, deren Look an die Kindertage der Computerspiele erinnert. Doch die grafische Reduziertheit sorgt dafür, dass Minecraft auf nahezu allen Systemen läuft. Aus der Egoperspektive durchstreift Jona zufällig generierte Bauklötzchen-Landschaften, zusammengesetzt aus groben, dreidimensionalen Pixeln, die Gras, Bäume oder Steine darstellen sollen. Block für Block lassen sich die Teile mit den bloßen Händen seiner Figur zusammensetzen, mit einer Spitzhacke oder einer Axt bearbeiten und zu neuen Werkzeugen kombinieren, so dass sich dann wieder andere Möglichkeiten auftun. Bäume fällen, Gold schürfen, Häuser bauen, Felder bewässern. So leben die Baumeister ihre Kreativität aus. Warum lassen sich Kinder und selbst Erwachsene mit diesem einfachen Sandkastenprinzip so lange bei Laune halten? Für Unbeteiligte ist die Faszination, die vom Minecraft-Kosmos ausgeht, auf den ersten Blick unverständlich. Die Kameraführung ist verwirrend wild und das Game-Kauderwelsch wirkt zunächst abschreckend. Auch das Handling ist nicht einfach. Doch das hält Abermillionen Menschen aus aller Welt seit Jahren nicht davon ab, ihren eigenen Kosmos zu modellieren.
Auf dem Markt seit 2009
Minecraft wurde vom Schweden Markus »Notch« Persson entwickelt, zunächst in Eigenregie, später dann in der von ihm gegründeten Firma Mojang. Auf den Markt kam es 2009. Gut fünf Jahre später übernahm Microsoft Mojang, für 2,5 Milliarden Dollar. Spätestens da war das Indie-Spiel im Mainstream angekommen. Doch wer den Erfolg von Minecraft verstehen will, sollte wissen, dass es nicht nur ums Spielen geht. Gerade für jüngere Gamer sind Minecraft-Filme auf Youtube mindestens genauso wichtig. In sogenannten Let‘s-Play-Videos zeigen YouTuber Tipps und Tricks und entwickeln ganze Serien, die mit viel Witz durch das Spiel führen. Sie bieten einen ähnlichen Reiz wie andere Übertragung auch – Unterhaltung durch wortgewandte Moderatoren, hilfreiche Ratschläge für die eigene Anwendung und spannende Momente mit Mord und Totschlag.
Klötzchen für Klötzchen
Die Kommunikation ist das A und O in Minecraft. Spieler stellen zur Schau, was sie erschaffen haben, oder sie bauen gemeinsam an noch größeren Welten. Denn ohne die Hilfe anderer lässt sich das Spiel kaum ausreizen. Hinter der simplen Fassade stecken unendliche Kombinationsmöglichkeiten von Gegenständen. In Minecraft geht es nicht nur darum, Abenteuer zu bestehen, sich in Häusern vor Dunkelheit und gefährlichen Gestalten zu schützen. Im Gegenteil! Aus den würfelförmigen Bausteinen entstehen ganze Welten, die zwar grob zusammengesetzt werden, dabei aber vor Detailtreue strotzen. So haben Minecraft-Gruppen Klötzchen für Klötzchen ganz New York oder die Fantasy-Stadt Mordor aus dem »Herrn der Ringe« nacherschaffen. Ein solches Unternehmen erfordert den Einsatz einer Gemeinschaft, die monatelang an Projekten arbeitet. Es ist vor allem die Community, die dafür sorgt, dass sich Minecraft immer weiterentwickelt. Sie erschafft sogenannte Mods, d.h. Modifikationen des Spiels. Mittlerweile gibt es zahlreiche frei zugängliche Minigames auf speziellen Servern. Ohne diesen Gemeinschaftsgedanken wäre Minecraft wohl schon ausgestorben.
Sprung in die analoge Welt
Längst ist Minecraft der Sprung aus der virtuellen Welt in die analoge gelungen. Erinnert uns der Stil von Minecraft nicht an das altbekannte Lego? Tatsächlich ist diese Ähnlichkeit auch dem dänischen Spielzeughersteller aufgefallen, der eine Minecraft-Reihe in sein Sortiment aufgenommen hat. Dazu gibt es Plüschtiere oder Actionfiguren aus der Minecraft-Welt, bis hin zu bedruckten Tassen und T-Shirts, die mit subtilen Drucken wie dem Periodensystem des Minecraft-Universums gestaltet sind. Minecraft hat sich von einer Spielidee zu einem Kult entwickelt und aus Spielern Fans werden lassen. Nicht trotz, sondern wegen der simplen Grafik. »Das Verpixelte gehört einfach zu Minecraft dazu!«, sagt Jona.
Nostalgie ist vielleicht der Grund dafür, dass Minecraft zum unverwechselbaren Klassiker hat werden können. Doch nicht zuletzt die veraltet anmutende Reduziertheit des Oberflächendesigns ermöglicht es den Spielern, ihre Kreativität auszuleben. Die Blöcke sehen nicht nur aus wie dreidimensionale Pixel, sie erfüllen auch genau diesen Zweck. Sie bilden den Grundstein für jeden nur erdenkbaren Gegenstand. Das zeichne Minecraft aus, sagt der Professor für Gamedesign Michael Bhatty.
Komplexe Kunstwerke?
»Mit dieser einfachen Mechanik können die Spieler machen, was sie wollen. Wie kann ich mit dieser Einfachheit komplexe Kunstwerke schaffen? Das ist die Frage, die die Spieler reizt.« So simpel das Prinzip von Minecraft also auf den ersten Blick erscheint, so grenzenlos ist der Umgang mit den Materialien. Und das hat dazu geführt, dass Minecraft heute generationsübergreifend von Jugendlichen und Erwachsenen gespielt wird.
Neben dem Kultspiel Pong oder Space Invaders wurde Minecraft 2013 in die Sammlung des Museum of Modern Art aufgenommen. Während viele Kritiker empört waren, dass Minecraft nun neben Picasso zu finden ist, gab es auch Stimmen, die den Einzug der Computerspiele in die Museen für überfällig halten. »Gamedesigner sind keine Informatiker«, sagt Bhatty. »Sie sind keine Softwareentwickler, sondern sie sind Künstler.« Festzuhalten bleibt: Games sind eine wichtige Form des Interaktionsdesigns und damit ästhetischer Ausdruck.
Auch in Schulen ist Minecraft angekommen. Der Werkstoff »Redstone« beispielsweise stellt den elektrischen Strom nach, indem er sich wie Kabel verlegen lässt und den angeschlossenen Gegenständen elektrische Impulse liefert. Mit seiner Hilfe lassen sich im Physikunterricht Schaltkreise simulieren. Informatische Strukturen, bis hin zur eigenen Programmierung, können durch Minecraft anschaulich gemacht werden. Auch im Kunstunterricht kann das Spiel nützlich sein. Denn es stellt genug Variation in Farbe und Verarbeitbarkeit des Materials zur Verfügung, um architektonische Modelle auf hohem Niveau zu simulieren. Michael Bhatty ist überzeugt davon, dass Videospiele sinnvoll in den Schulunterricht integriert werden können: »Games sind eine der besten Formen, um zu lernen. Denn sie vermitteln Strukturen.« Gameloop sei das Stichwort, sagt Bhatty. Herausforderungen identifizieren, Fertigkeiten verbessern, Lösungen finden, um dann schwerere Aufgaben zu bewältigen. »Ich befinde mich in einem permanenten Problemlösungszirkel. Gamedesigner wie Spieler sind extrem gut darin, Probleme zu lösen.«
Unterricht mit Minecraft
Doch viele Eltern und Lehrer stehen dem Einsatz von Games im Unterricht reserviert gegenüber. Schließlich sitzen ihre Kinder sowieso schon viel zu lange vor dem Bildschirm. Diese Argumentation lässt sich in einer Zeit, in der immer mehr Menschen immer mehr Zeit vor Computern und Spielkonsolen verbringen, gut nachvollziehen. Der Blick nach Skandinavien aber zeigt: Unterricht mit Minecraft kann sehr erfolgreich sein und Schülern Spaß am Lernen zurückgeben. »Nicht alle hören es gerne, aber Games sind die Leitmedien des 21. Jahrhundert!«, sagt Bhatty.
Games haben eine zunehmende Bedeutung in unserem Alltag. Sie dienen der Unterhaltung, der Kommunikation, und wir können unsere Kreativität mit ihnen ausleben. Um in einem Computerspiel erfolgreich zu sein, erfordert es taktisches Vermögen und logisches Denken. Nicht zuletzt ist es die Möglichkeit des Austauschs, die Minecraft so beliebt hat werden lassen. Anstatt aus der Realität zu fliehen, so Bhatty, wird beim Spielen die Realität erweitert. Denn die analoge und die virtuelle Welt sind unmittelbar miteinander verbunden. Weshalb die Frage, wie detailreich die Grafik ist, für den Erfolg von Minecraft eben nur eine untergeordnete Rolle spielt.