kultur.west: Frau Theißen, tot und männlich, das waren die Schlagworte, unter denen der WDR die jüngsten Opern-Spielpläne in NRW zusammengefasst hat. Lebende Komponisten hätten kaum eine Chance, gespielt zu werden. Komponistinnen schon gar nicht. Stimmt das so?
THEISSEN: Ja, das stimmt leider. Vor allem der Opernbereich ist ein Problem, denn er ist traditionell der teuerste – hier ist die gläserne Decke für Frauen noch enorm spürbar.
kultur.west: Warum ist die Schieflage im Musikbereich so krass?
THEISSEN: Dort spielt der Geniekult nach wie vor eine große Rolle. Auch nach 30 Jahren Frauenförderung bleibt so etwas erst mal verankert. Noch heute liegt der Anteil von Uraufführungen von Komponistinnen bei unter zehn Prozent. In den meisten Häusern werden vorwiegend Klassiker gezeigt, da ist der Frauenanteil verschwindend gering. Bei Häusern, die mehr Zeitgenössisches spielen, ist das Geschlechterverhältnis schon etwas ausgewogener.
kultur.west: Welche Studien bzw. Zahlen gibt es zum Geschlechterverhältnis in der Kultur?
THEISSEN: Besonders umfänglich hat dazu der Deutsche Kulturrat für die Studie »Frauen in Kultur und Medien« recherchiert, über einen Zeitraum von 20 Jahren, von 1994 bis 2014 – in verschiedenen Sparten und Berufsgruppen.
kultur.west: Laut dieser Studien ist der Frauenanteil also in der Musik am geringsten?
THEISSEN: Ja, gefolgt vom Film und den Darstellenden Künsten. In den Theatern sind die Intendanzen und Spartenleitungen nur zu 22 Prozent mit Frauen besetzt. Zudem gibt es in ganz Deutschland nur drei Dirigentinnen – von insgesamt 131 Chefpositionen. Immerhin sitzt eine Generalmusikdirektorin in NRW, Julia Jones in Wuppertal. Allerdings waren beim Dirigentenforum 2016 »Maestros von Morgen« 16 Prozent der Absolventen weiblich. Es gibt also mehr Potenzial – aber der Schritt von der ausgebildeten Dirigentin auf eine Stelle als GMD ist offenbar schwer.
kultur.west: Warum?
THEISSEN: Weil auch die Auswahlgremien vorwiegend männlich besetzt sind. Ich will Ihnen noch ein Zahlenbeispiel geben: In der Spielzeit 1994/95 lag der Frauenanteil unter den Musikvorständen von Orchestern und Musikvereinigungen bei 13 Prozent – 2013/14 waren es immer noch nur 22 Prozent.
kultur.west: Das heißt, Männer stellen in erster Linie Männer ein?
THEISSEN: Darauf lassen die Zahlen leider schließen, ja. Es gibt in Köln die Reihe »Frau Musica (nova)«, in der jährlich zeitgenössische Komponistinnen und Interpretinnen gefördert werden. Mit den Initiatoren haben wir uns Mitte der 90er Jahre mit der Orchesterbesetzung von Frauen beschäftigt und zusammen mit dem Landesmusikrat durchgesetzt, dass bei Vorstellungsrunden die Bewerber hinter Vorhängen vorspielen. Man hört also nur das Instrument und sieht nicht, wer es spielt. Seitdem sind die meisten Orchester paritätisch besetzt. Gerade arbeiten wir unter anderem mit dem Deutschen Bühnenverein daran, dass auch Auswahlgremien an den Theatern paritätisch besetzt werden.
kultur.west: In der bildenden Kunst sind zuletzt aber immer mehr Spitzenpositionen in Museen an Frauen gegangen…
THEISSEN: Ja, das stimmt, bei Häusern der öffentlichen Hand hilft da aber auch das Gleichstellungsgesetz. In der bildenden Kunst haben eher die Künstlerinnen Probleme. Studien besagen etwa, dass sie im Jahr 2011 im Durchschnitt 3325 Euro für eines ihrer Kunstwerke erzielten, Künstler hingegen 7443 Euro. Solche Unterschiede wirken sich natürlich auch auf die Altersbezüge aus: Im selben Jahr gaben 23,6 Prozent der Künstler an, mehr als 2000 Euro Rente zu bekommen. Bei den Künstlerinnen waren es gerade mal 9,3 Prozent. In Galerien sind nur ein Viertel der dort vertriebenen Künstler Frauen – aber im Kunststudium liegt der Frauenanteil bei 55 Prozent.
kultur.west: Wie sieht es in der Filmbranche aus?
THEISSEN: »Pro Quote Regie« hat da einige Zahlen herausgearbeitet. Sie stammen aus 2014, als sich die Initiative gegründet hatte. Demnach waren in dem Jahr 42 Prozent der Regie-Absolventen Frauen. Bei allen Kino- und Fernsehfilmen in diesem Jahr hatte der Frauenanteil allerdings nur bei 15 Prozent gelegen. Bei den öffentlich-rechtlichen Sendern ist es leider nicht anders: Nur elf Prozent der fiktionalen Filme in ARD und ZDF hatten Frauen gemacht. Im Kinobereich waren es 22 Prozent der Kinospielfilme.
kultur.west: Gibt es auch Zahlen für den Literaturbereich?
THEISSEN: Interessant ist nicht nur, dass es weniger Autorinnen als Autoren gibt, sondern auch mehr männliche als weibliche Kritiker.
kultur.west: …die wiederum eher männliche Autoren weiterempfehlen?
THEISSEN: Ja, in einer Studie waren 3429 Belletristik-Rezensionen untersucht worden: 2255 davon waren von Männern geschrieben worden, nur 1109 von Kritikerinnen. Ein Drittel der weiterempfohlenen Bücher hatten Frauen geschrieben.
kultur.west: Was halten Sie eigentlich von Frauenquoten?
THEISSEN: Ich glaube, dass ohne Quote gar nichts geht.
Manche Frauen sehen eine Quote kritisch, weil sie Sorge haben, einen Job nur aufgrund ihres Geschlechts bekommen zu haben – und nicht, weil sie am besten qualifiziert sind.
THEISSEN: Es hat sich über Jahre aber gar nichts bewegt, weil vieles nur freiwillig war. Dort, wo eben der Maestro-Geist weht und alles einer Person unterworfen wird, die am liebsten mit 95 und dem Taktstock in der Hand auf der Bühne stirbt, da muss man Instrumentarien finden, um die junge Generation in gewisse Positionen zu bringen. Ich glaube aber auch, dass eine Frauenquote in einem Wirtschaftsunternehmen etwas anderes bedeutet als am Theater.
kultur.west: Inwiefern?
THEISSEN: In der freien Wirtschaft herrscht Fachkräftemangel. Keine Firma kann es sich leisten, keine Personalentwicklung zu machen – und da gehört die Vereinbarkeit von Familie und Beruf unbedingt dazu.
kultur.west: In der freien Wirtschaft gibt es also zu viele offene Stellen – und in der Kultur genau das Gegenteil?
THEISSEN: Ja, hinzu kommt, das in der Kultur fast alle freiberuflich arbeiten.
kultur.west: Hat die #metoo-Debatte eigentlich in Bezug auf das Thema Chancengleichheit irgendetwas bewirkt?
THEISSEN: Ja, ich finde schon. Dass wir kurze Zeit später unsere Mittel erhöht bekommen haben und eine zusätzliche halbe Stelle einrichten konnten, war aber Zufall (lacht). Die Debatte hat vor allem bei jüngeren Frauen etwas bewegt. Anfang der 2000er-Jahre war der Feminismus irgendwie gar kein Thema mehr. Viele junge Frauen dachten, bei ihnen regle sich vieles von alleine. Dann haben aber auch sie gesehen, dass doch viele Bedingungen noch immer nicht stimmen, auch wenn sie sich verbessert haben. Heute sind die meisten Frauen keine reinen Hausfrauen mehr. Aber dann doch »nur« halbtags beschäftigt. Hat das wirklich viel verändert, wenn nach wie vor die Frauen vor den Männern zurückstecken, die weiterhin Vollzeit arbeiten gehen?
kultur.west: Wäre das für Sie denkbar – ein Mann an der Spitze des Frauenkulturbüros NRW?
THEISSEN: Warum nicht? Egal, ob ein Mann oder eine Frau auf diesem Posten sitzt, fest steht: Im Grunde genommen sind wir jeden Tag damit beschäftigt, uns selbst abzuschaffen. Aber ich mache diesen Job seit 1991 und fürchte – auch weit über meine Rente hinaus wird noch sehr viel zu tun sein…