Mehr als nur ein Kleiderwechsel: Martin Gehrmann hat sein Aussehen in den vergangenen Jahren stark verändert. Eine Biografie in Bildern von Frederik Busch.
Es muss im Frühjahr 2006 gewesen sein, als Martin Gehrmann damit anfing, einzelne Kleidungsstücke seines Freundes zu tragen. Alles das, was zu Tobias gehörte und in der gemeinsamen Wohnung von ihm zu finden war: Seine Shirts mit Aufdrucken, mit Bandtiteln und Sprüchen. Einige Hosen, eng, übersät mit Reißverschlüssen oder Schnallen. Martin Gehrmann war bis dahin als Skinhead unterwegs. Er hatte Bomberjacken getragen, Hosenträger und mit Domestos ausgeblichene Jeans. So selbstverständlich war seine Verwandlung in einen Punk also nicht. Aber nun war ohnehin nichts mehr selbstverständlich gewesen. Denn Tobias war gestorben. Und Martin Gehrmann musste einen Weg finden, mit diesem Schock, mit dieser Trauer, Leere und Wut irgendwie umzugehen.
Fast zehn Jahre ist das nun her, und wer Fotos von Martin Gehrmann aus verschiedenen Zeiten betrachtet, kann kaum glauben, wie oft, wie stark sich der heute 52-Jährige immer wieder verwandelt hat: vom schwulen Skinhead zum Punk. Vom Eiskunstläufer mit Paillettenshirt zum Kletterer mit eigener Chalkbagkollektion. Martin Gehrmann ist ein großer Mann, der immer viel Sport getrieben hat. Der sanft spricht, ein auffälliges Nasenpiercing trägt, dazu halblange Haare. Tagsüber arbeitet er als medizinisch-technischer Assistent in einem Labor in Köln, an Wochenenden und abends jobbt er in einer Kletterhalle und strickt Kalksäckchen für seinen eigenen Onlineversand. Wir alle sind eine Summe aus verschiedenen Rollen, Aufgaben und Interessen. Doch in der Schwulenkultur sind Outfits mehr als nur Anziehsache und Kleidung nicht selten so etwas wie ein Code: für Dinge, die man denkt, die man mag und die man will. Für Ansichten, die man vertritt und nach außen zeigt – so wie im Fall von Martin.
2004 hatte ihn der Künstler Frederik Busch in einer Kölner Industriehalle fotografiert und die Aufnahmen später im Süddeutsche Zeitung Magazin veröffentlicht. Mit Freunden inszenierte er sich vor der Kamera als schwuler Skinhead, der seinen Schädel mit Rasierschaum für die Kahlrasur vorbereitete oder einen anderen Skin küsste. Eine Szene, die so ambivalent wirkte, so zärtlich und zugleich hart, dass auch Magazine wie Vice, Verbände wie Amnesty International oder Theaterhäuser wie Kampnagel sie auf ihre Publikationen druckten.
Wie sollte das auch zusammenpassen – Schwule, die zugleich Skinheads sind? Entstanden war die Bewegung Ende der 60er Jahre in England als Gegenpol zur Hippiekultur: Skins, wörtlich Hautköpfe, waren harte Jungs aus dem Arbeitermilieu. Politik spielte zunächst keine oder nur eine untergeordnete Rolle, wie etwa bei den Oi!-Skins. Bis sich die Szene Anfang der 1980er Jahre in Linksextreme, Rechtsextreme und Neonazis spaltete. Vor allem in Ostdeutschland formierten sich nach dem Mauerfall große Gruppen Rechter. Als die Asylbewerberheime in Hoyerswerda oder Solingen brannten, gingen Bilder von kahlgeschorenen Skinheads in Springerstiefeln um die Welt.
Von Stiefeln mit weißen Schnürbändern, so wie Martin sie früher getragen hat. Dabei war er einige Zeit sogar im Schwulenreferat der Universität Bonn und stellvertretender AstA-Vorsitzender. Mit Politik hatte sein Outfit nichts zu tun. »Ich wollte einzig und allein martialisch aussehen«, erinnert er sich heute. Nur deswegen schließt er sich Mitte der 90er Jahre dem »Gay Skinhead Movement« an. Einer Bewegung mit eigenen Datingplattformen und Events, zu der damals schätzungsweise 2000 Schwule in Deutschland gehörten.
Martins Verwandlung vom linken Studenten mit Langhaarfrisur in einen »harten Typen« mit kahlgeschorenem Kopf fällt in eine Zeit, in der ein Kuss zwischen Männern in einer Folge der »Lindenstraße« oder schwule Tänzer in einem Musikvideo von Madonna noch Skandale auslösen. In den 90er Jahren wird aber auch der Paragraf 175 abgeschafft, der bis dato Sex zwischen Männern noch unter Strafe gestellt hatte. Martin ist kein »Opfertyp«, wie er von sich sagt. Er steht auf »Über-Männer« und geht dafür auch in Clubs und Bars, in denen man ungezwungen seinen Fetisch ausleben kann. Und in denen damals wie heute Plastiktüten ausgegeben werden – für den Kleiderwechsel vor dem Weg nach Hause. Martin Gehrmann hingegen lebt zehn Jahre lang seinen Fetisch nicht nur abends oder am Wochenende aus, er trägt ihn 24 Stunden am Tag, sieben Tage die Woche nach außen. Lebt in einer Minderheit in der Minderheit, wenn man so will, die durchaus mit den Codes der Schwulenkultur agiert: Ein Taschentuch, Armband, Ring, Schlüssel, bestimmte Farben an der Kleidung können Ausdruck für sexuelle Vorlieben sein. Martin Gehrmann zieht daher weiße Schnürsenkel in seine Springerstiefel, als Ausdruck für seinen Wunsch nach härterem Sex – dass sie zugleich als Zeichen für Rechte gelten, nimmt er in Kauf. Denn die Skin-Kleidung verändert auch sein Auftreten: Er liebt die Provokation, etwa mit einem anderen Skin händchenhaltend durch die Stadt zu gehen. Sein Gang wird anders, er fühlt sich sicher und stark mit diesem »Skin-Ding«, wie er sagt, und seinem Ausdruck harter Männlichkeit.
Bis er einen Menschen trifft, der sich nicht wirklich für Images, Outfits, Codes interessiert. Auch wenn er selbst wie ein Punk herumläuft. »Wir haben uns einfach geliebt«, sagt Martin Gehrmann über Tobias. Rein äußerlich werden die beiden ein merkwürdiges Paar: Ein Skinhead, der keiner ist, schon gar nicht rechts. Und ein Punk, der wie ein Linker daher kommt, sich selbst aber als »Anarchist« bezeichnet. Der seine »Gib Nazis keine Chance«-Buttons auf der Jacke gleich neben Martins karierte Hemden in den Kleiderschrank hängt, seine Haarfärbemittel neben seinen Nassrasierer auf die Badezimmerablage stellt. Bis zum Jahr 2006 und jenem Tag, der Martin Gehrmanns Zeitrechnung verändert. Der das Leben in ein Leben mit Tobias und ein Leben ohne Tobias teilt.
»Ich habe intensiv gelebt«, sagt Martin Gehrmann heute über seine extremen Verwandlungen. Erst kürzlich hat er das Longboard für sich entdeckt, seitdem kurvt er in Kapuzenpullovern mit Keith-Haring-Motiven durch Köln. Aus seinem Kleiderschrank sind Shirts mit Bandtiteln und Sprüchen verschwunden. Alle Bomberjacken, Hosenträger und Domestos-Jeans. Und alle Hosen, eng, übersät mit Reißverschlüssen oder Schnallen auch. Er trägt Tobias’ Punkoutfit nicht mehr und auch keine Skin-Kleidung. Nur Tobias’ Kutte hat er behalten. Auch wenn er sie nie wieder anziehen wird.