»Wir müssen uns schon vom ersten Moment an 200 Prozent engagieren«, sagt Pierre-Laurent Aimard. Hinter ihm steht ein Flügel, vor ihm sitzen Lehrer und Studenten, die an diesem Samstagvormittag im April auf Einladung des Klavier-Festivals Ruhr in den Musiksaal der Folkwang Universität gekommen sind, um sich von Aimard in György Ligetis »Musica ricercata« und dessen Etüden einführen zu lassen. Das könnte kaum einer besser als der französische Pianist. Fünfzehn Jahre lang hat er mit dem ungarischen Komponisten eng zusammengearbeitet. Selbstverständlich wird Aimard später auch noch über den Menschen Ligeti sprechen, über dessen Strenge und Perfektionismus in künstlerischen Dingen.
Doch jetzt geht es erst mal um die Musik. Darum, wie Ligeti »Schichten von Zeit« komponiert habe oder wie ein Bach-Thema in ein Spiel von sich hervorhebenden Linien überführt wird. Aimard spricht von »trockenen Texturen mit Löchern wie von Motten« und von der originellen Einfachheit, mit der Ligeti traditionelles Material manipuliert habe. Und dann verknäult er noch seine schlanken Pianisten-Finger ineinander, streckt sie dem gebannten Publikum entgegen, um auch dem Letzten hier anschaulich zu machen, wie verknotet polyphon es manchmal in Ligetis Werken zugehen kann.
Warum kann diese Musik Menschen erreichen?
Fragen? Klaus Hagge hat eine. Der Musiklehrer unterrichtet seit fünfzehn Jahren an der Gemeinschaftsgrundschule Sandstraße in Duisburg Marxloh. Und Hagge möchte jetzt wissen, wie das der »Musica ricercata« zugrunde liegende intellektuelle Konzept zu einem so berührenden Klang-erlebnis hat werden können. Denn es mutet ja sehr formal an, sich bei der Komposition zunächst nur auf eine Note in unterschiedlichen Tonhöhen zu beschränken, um den Rahmen mit jedem folgenden Stück des Zyklus um einen Ton zu erweitern. Warum kann diese Musik Menschen erreichen, die keinen Sinn für derlei Konstruktionen haben? Kann sie es überhaupt?
Im Mai winden sich drei Jungs mit auf dem Rücken verschränkten Armen flach über den Boden der Aula in der GGS Sandstraße. Gleich werden diese Schlangen von ihrem zurückweichenden Klassenkameraden mit einer imaginären Axt niedergestreckt. Ein anderer Schüler deutet engagiert Boxbewegungen an, während vorne ein Kind mit einer Herzmassage reanimiert wird. Die vierte Klasse hat sich in Gruppen unterteilt, um pantomimisch Geschichten zu erzählen – zum neunten Stück der »Musica ricercata«. Zwischendurch erinnert die Tanzpädagogin Petra Jebavy die Klasse an die Grundregeln, die für jeden Bühnenauftritt gelten: Wir kauen keine Kaugummis, quatschen nicht durcheinander, hören zu und rennen nicht herum. »Ich möchte, dass sich die Kinder hier mit den Grundbewegungsarten auseinandersetzen, die für ihre Weiterentwicklung wichtig sind«, sagt Jebavy. »Viele von ihnen können nicht gerade stehen, nicht hüpfen oder rückwärts gehen.«
Die GGS Sandstraße liegt im Zentrum von Marxloh, in einem Stadtteil »mit besonderem städtebaulichen Erneuerungsbedarf«, wie es auf Amtsdeutsch im Schulprogramm heißt. Die soziale Situation …
Lesen Sie weiter in der gedruckten Ausgabe von K.WEST!
26. Juni 2014: Projektpräsentation der Grund-, Förderschüler und Gymnasiasten aus Duisburg zusammen mit dem Aimard-Schüler Fabian Müller im Landschaftspark-Nord, Duisburg. 6. Juli 2014: Schüler und Studierende der Folkwang Universität zusammen mit Pierre-Laurent Aimard bei PACT Zollverein, Essen