// Irgendwie riecht es wie Weihrauch. Musik dröhnt. Lichtspiele rotieren, zerplatzende Farbblasen auf drei Wänden gleichzeitig. In der riesigen dunklen Höhle spielen auf zwei Podien abenteuerlich gekleidete Musiker ekstatische Rock-Rhythmen, synchron begleitet von bizarren Lichtkompositio- nen. Stroboskop-Blitze zucken, zerhacken jede Bewegung tanzender junger Leute in Einzelbilder.
Im Inneren einer Rundbühne laufen deutsche und internationale Untergrundfilme. Ein Mensch rezitiert Textfragmente. Kaum einer hört zu, aber die Sätze werfen je nach Lautstärke verschiedenfarbige Lichtfiguren in die Halle. »Psychedelisch« – das Wort macht die Runde. Feuerschlucker, Radrennfahrer, Henker treten auf. Aus einem Sarg springt ein nackter Mann, läuft über die Bühne, entschwindet im Dunkeln. Als Ereignisfetzen zur Kenntnis genommen oder auch nicht – die Besucher sind mit sich selbst beschäftigt. Tanzend, schlafend, liebend. Aber nicht nur auf den Bühnen wird Musik gemacht: Maultrommeln und indische Flöten an vielen Lippen schaffen ein Dorado der Kakophonie.
Etwas so Unwirkliches, so Phantastisches hat diese Halle noch nicht gesehen.
Es ist die Nacht vom 28. auf den 29. September 1968. In der Essener Grugahalle sind 11.000 Menschen auf dem »Trip nach Hashnidi«, dem bis dato größten Happening der europäischen Popgeschichte. Höhepunkt eines Festivals, wie es vorher noch keines gegeben hat: Die Internationalen Essener Songtage 1968.
Essener Songtage (IEST) – ein Mega-Ereignis zwischen Monterey 1967 und Woodstock 1969, und doch selbst am Ort des Geschehens fast vergessen. Fünf Tage lang experimentelle Rockmusik und melodische Anti-Kriegslieder. Freejazz und anarchistisches Kabarett. Internationale Folklore und Heine-Lieder. Zigeuner-Swing und sphärische Elektronik-Klänge. Blues und Chanson. Lieder aus dem KZ und Multimedia-Shows. Protestlieder undReferate, geplante und erzwungene Diskussionen.
Mehr als 200 Musiker(innen) aus zehn Ländern, 40 Veranstaltungen vor insgesamt 40.000 Besuchern: biederen Bürgern und glücklichen Gammlern, lustfeindlichen Linken und kunstfreundlichen Kiffern, intoleranten Intellektuellen und kritiklosen Konsumenten. Geburtsstunde einer eigenständigen deutschen Rockmusik, des »Krautrock«.
IEST – das ist 1968 eine Manifestation der gesamten internationalen subkulturellen Szene, eine, wie es sie in dieser Breite danach nie mehr gegeben hat. Ein Meilenstein der Pophistorie Deutschlands.
1968: Das mythische Jahr wird zurzeit überall medial aufbereitet, gedeutet, verklärt oder verteufelt – je nachdem, ob man Harald Jähner oder Götz Ahly, Daniel Cohn-Bendit oder Eva Hermann ist. Die IEST 68 sind Teil dieses Mythos. Wie kam es zu den Songtagen? Und warum gerade in Essen?
Da war zum einen eine neue Bewegung in der Musikszene: Wiederbelebung des Folksongs in Anlehnung an das amerikanische Folk-Revival sowie das Auftauchen neuer deutscher Liedermacher, die in ihren Texten das wachsende Unbehagen in der jungen Generation aufnahmen, gegen die Unzulänglichkeiten einer nur scheinbar demokratischen Gesellschaft ansangen. Diese Szene traf sich ab 1964 auf der Burg Waldeck im Hunsrück.
Und da war zum anderen ein Mensch, ein Macher, der 1967 dazu kam: Rolf-Ulrich Kaiser, 25, Musikjournalist. Der kannte die alternative Musikszene wie kaum ein Zweiter. Er hatte in den USA das Festival von Monterey erlebt und wollte so etwas auch in Deutschland aufziehen: Ein Treffen von Liedermachern, die andere Lieder machten: Lieder als Träger politisch und gesellschaftlich relevanter Informationen und Meinungen, Lieder als Artikulation einer auf Aktion und sogar Revolution zielenden Bewegung. Und dazu Musik von solchen Künstlern, die neue Wege abseits der »ausgelatschten Pfade des Kulturbetriebs« suchten. Die jugendliche Subkultur sollte in ihrer Gesamtheit dargestellt werden, um damit das neue Lebensgefühl der rebellischen Generation ins Bewusstsein der Öffentlichkeit zu rücken.
Dafür war Waldeck zu klein, dafür musste man dorthin gehen, wo viele Menschen zu erreichen waren. Von seinem Freund Reinhard Hippen, Gründer des Deutschen Kabarett-Archivs in Mainz, wusste Kaiser, dass man in Essen aufgeschlossen war für experimentelle Jugendarbeit. Und dem mutigen Stadtjugendpfleger Horst Stein gelang es tatsächlich, die widerstrebenden Essener Ratsmitglieder davon zu überzeugen, dass man dieses Festival in den Mauern der Stadt ermöglichen sollte. Und weil Oberbürgermeister Wilhelm Nieswandt (SPD) angesichts angekündigter Hundertschaften internationaler Journalisten die Gelegenheit sah, den Ruhm der Stadt Essen medial zu vermehren, befürwortete er das Projekt entschieden.
Eine einmalige Allianz wird so geboren: von Leuten aus der Untergrund-Szene und Mitarbeitern einer städtischen Behörde. Denn die Stadt Essen vertraut dem Jugendamt die Durchführung des Festival-Projekts an, lässt im Übrigen aber den Ideengebern (neben Kaiser sind das Reinhard Hippen, dazu Martin Degenhardt, der Bruder des Sängers Franz-Josef Degenhardt, der Journalist Thomas Schroeder sowie der Soziologiestudent Henryk M. Broder als Pressesprecher) völlig freie Hand bei der Programmgestaltung. Geschäftsführer wird der Essener Protestsänger Bernhard Witthüser.
Kaisers ursprünglicher Plan, vor allem die großen europäischen Liedermacher einzuladen, scheitert unter anderem daran, dass wegen der Invasion der Warschauer Pakt-Truppen in Prag die Künstler aus dem Ostblock nicht kommen können und die französischen Chansonniers Brassens, Brel, Gréco nicht kommen dürfen – bei dem Festival werden keine Gagen gezahlt, nur Aufwandsentschädigungen, und das ist der französischen Künstlergewerkschaft zu wenig. Trotz einer zugesagten städtischen Ausfallgarantie von 300.000 DM können auch nicht alle eingeladenen amerikanischen Künstler verpflichtet werden, und da Kaiser unbedingt als große Attraktion die wichtigsten amerikanischen Untergrund-Bands – Frank Zappa mit den Mothers of Invention und die Fugs der Beat-Poeten Tuli Kupferberg und Ed Sanders – präsentieren will, müssen andere Auftritte gestrichen werden. Statt amerikanischer Liedermacher kommen euro- päische Rock- und Bluesbands.
Letztlich aber ist die Besetzung mit den deutschen Liedermachern Degenhardt, Dieter Süverkrüp, Hannes Wader und Hanns Dieter Hüsch, der englischen Poprakete Julie Driscoll mit ihrem genialen Organisten Brian Auger, den Mothers und Fugs, Tim Buckley und David Peel, dem englischen »Godfather of Blues« Alexis Korner, der anarchistischen Kabarettgruppe Floh de Cologne, den umwerfend komischen Leuten um Ingo Insterburg und Karl Dall, dem deutschen Folk-Urgestein Hein und Oss, dem Free Jazzer Gunter Hampel samt Gitarrist John McLaughlin und vielen anderen mehr – letztlich ist diese Besetzung wirklich ungewöhnlich und hochkarätig.
Die erste Duftmarke setzt gleich im ersten Konzert, dem »Deutschen Liederabend«, Franz-Josef Degenhardt, der allen Zwischentönen in der Musik eine Absage erteilt und offen zur Revolution aufruft. Und damit ist die Sollbruchstelle des Festivals bereits defi- niert: die Frontlinie zwischen Musik und Politik, zwischen dem politischen Dogmatismus der Neuen Linken und dem Hedonismus der Hippies, den Weltveränderern und den Weltvergessenden. Immer wieder versuchen junge Links-Aktivisten die Veran- staltungen zu stören, umzufunktionieren in Diskussions- und Aktionszentren. Aber die meisten Besucher sind gekommen, um in die Musik einzutauchen, der Sinn steht ihnen nicht nach Politik. Frank Zappa stellt verwundert fest, dass man in Deutschland offenbar lieber über Musik spricht als sie zu hören.
Als ein in den Tiefen seines politischen Gemüts erschütterter Volksaufklärer mitten in das Antikriegslied der wunderbaren englischen Folk-Sängerin Julie Felix hinein brüllt: »Das ist doch kein sozialistischer Protest, das ist sozialistische Onanie!« Da wird es den anderen zu bunt: »Gammler, hört auf zu stören«, reimt einer, »wir wollen schöne Lieder hören!« Nach bewegter Diskussion einigt man sich schließlich darauf, in den Pausen zwischen den einzelnen Musikblöcken zu diskutieren.
Warum diese Debattierwut? Kaisers Konzept sah vor, dass über die neue Musik – die politischen Lieder wie die ungewöhnlichen Rockexperimente – referiert und diskutiert werden solle. Da das Programm aber vor allem durch die Verpflichtung von immer mehr Rock- und Popgruppen so aufgebläht ist, dass für Diskussionen nicht mehr viel Zeit bleibt, sehen sich diejenigen Zuhörer geprellt, die vor allem nach Essen gekommen waren, um mit Hilfe der dort vorgetragenen Musik die Weltrevolution einzuläuten.
Die findet nicht statt; wohl aber gibt es einen Eklat. Und zwar bei dem Empfang, den die gastgebende Kommune für die Festival-Macher und -Künstler ausrichtet. Die geschlossene Runde wird von Festival-Besuchern »gesprengt«: In einem hochrevolutionären Akt wird die Kuchentheke erobert und städtisches Freibier auf den Teppich des »Saalbaus« gekippt, OB Nieswandt bekommt den Hauptzorn der Protestierer ab. Folge ist, dass die Akzeptanz der Songtage bei den Essener Bürgern, die sich ohnehin nurminderheitlich für das Festival begeistern können, weiter sinkt.
Da ein Skandal sich eher im Gedächtnis verankert als das, was gut läuft, geraten die zum Teil großartigen musikalischen Ereignisse in den Hintergrund: Der fulminante Auftritt von Julie Driscoll; die bahnbrechenden Konzerte von Frank Zappas Mothers of Invention, in denen die Deutschen erfahren, was perfekte Untergrund-Musik wirklich sein kann; die manche Zuschauer schockierende Show der Fugs mit ihren zahlreichen sexuellen Anzüglichkeiten; die sprachmächtigen und politisch scharfen Lieder von Süverkrüp, Hüsch und (mit Einschränkungen) Degenhardt – und die Geburt einer eigenständigen deutschen Rockmusik bei Auftritten von bis dato kaum bekannten Gruppen wie der bayrischen Kommune Amon Düül (mit einer höchst erotisch die Rasseln schwingenden Uschi Obermaier), Guru Guru, Soul Caravan und Tangerine Dream. »Krautrock« nennen das die Briten – das ist spöttisch gemeint und wird doch bald, vor allem in den angelsächsischen Ländern, zum Gütezeichen«.
Zu den spektakulären Veranstaltungen gehört auch die Multimedia-Show des Düsseldorfer Künstlers Ferdinand Kriwet, die allerdings durch einen holzlattenschwingenden Rainer Langhans von der Berliner Kommune I (der hat in Essen Uschi Obermaier kennen gelernt und befindet sich vermutlich im Hormonstau) rüde gestoppt wird. Aber auch viele andere
Besucher im damaligen Olympia-Kino wollen keine Sprachkunst mehr, sondern den angekündigten ersten Auftritt der Mothers of Invention in Deutschland erleben.
Neben solchen Sensationen verblassen bedauerlicherweise die in sehr harmonischer Atmosphäre stattfindenden Konzerte der Folk-Sänger(innen) und Kabarettisten – mit Ausnahme des Floh de Cologne: Die Kölner haben das herkömmlichen Kabarett für obsolet erklärt, verzichten auf Text und Musik, schmieren sich dafür mit brauner Farbe an, projizieren Sex-Dias auf eine Leinwand, die anschließend übermalt werden (Aktion »Saubere Leinwand!«) und werfen Seifenpulver ins Publikum, damit alle sich reinwaschen können.
Und in der den Wahnsinn streifenden Samstagnacht, dem »Trip to Hashnidi«, dem zehnstündigen Total-Happening, lassen die Flöhe nachts um drei sogar die Hosen herunter. Das regt zwar kaum einen von denen auf, die dabei sind – wohl aber solche, die gehört haben, dass da angeblich etwas geschehen sei. Es gibt einen fast gänzlich frei erfundenen Zeitungsbericht, staatsanwaltliche Ermittlungen wegen Pornografie, Gotteslästerung und Jugendgefährdung sowie Anfragen im Landtag, wieso Steuergelder für ein Pornografiefestival ausgegeben werden.
Die Ermittlungen werden zwar weitgehend ergebnislos eingestellt, aber der Ruf der Songtage ist zerstört: Zahlreiche Zeitungen haben den Bericht vom Skandal (»Das war Sauerei in einem Schweinestall«) nachgedruckt, ohne die Geschichte zu recherchieren. Die Stadt Essen sieht sich Spott und Anfeindungen ausgesetzt und geht in Sachen Songtage auf Tauchstation.
Das Riesenereignis verschwindet in den Tiefen der Geschichte … //
Detlev Mahnert, als junger Künstlerbetreuer selbst bei den IEST dabei, ist neben Harry Stürmer Herausgeber des Bandes »Zappa, Zoff und Zwischentöne. Die Essener Songtage 1968«, das im Mai im Essener Klartext-Verlag erscheint.