INTERVIEW SASCHA WESTPHAL
Als das alle zwei Jahre stattfindende Theaterfestival »FAVORITEN« 1985 begründet wurde, damals unter dem recht bizarren Namen »Theaterzwang«, war es als Leistungsschau der freien Szene Nordrhein-Westfalens konzipiert. 2016 gibt es zwar, anders als vor zwei Jahren, wieder einen Wettbewerb, aber der ist nur eine Facette unter vielen. Mit ihren über das Unionviertel verteilten Spielstätten und insgesamt mehr als 40 Arbeiten, zu denen auch Filme und Lesungen zählen, sind diese »FAVORITEN« eine Herausforderung für Künstler und Zuschauer, für die Stadt und die Veranstalter. Wie man sich trotzdem relativ schnell und einfach in dem Spektakel zurechtfinden kann, erklären der Festivalleiter Holger Bergmann und sein Dramaturg Jörg Albrecht.
k.west: Amelie Deuflhard, die Intendantin der Hamburger Kampnagelfabrik, eines der zentralen Produktionshäuser der freien Szene in Deutschland, gab vor kurzem die Devise aus, es sei an der Zeit, groß zu denken. Schließen Sie sich dem an?
Bergmann: Das zielt natürlich auf unseren Subtitel »Das beste Theaterfestival der Welt«. Aber es ist tatsächlich gut und sinnvoll, groß zu denken, weil das Denken wichtig ist. Und wie man das Denken aktivieren kann, ist, glaube ich, eine Übung, die wir gerade wieder versuchen. In der freien Szene wie in der Stadtgesellschaft. Dabei geht es grundsätzlich um die Wahrnehmung von Theater.
Albrecht: Dazu gehört dann auch, Denken als etwas Soziales zu begreifen. Es ist Zeit, sich daran zu erinnern, das Denken auch gemeinschaftlicher Prozess ist. Das Theater ist einer der Orte, die Gemeinschaft herstellen. Gerade hier kann man groß denken. Auch deswegen haben wir unser Programm, das im Vergleich zu anderen regionalen Festivals extrem üppig ist, genau so angelegt.
Bergmann: Es ist eine Behauptung, überall in diesen Stadtteil, das Unionviertel, hineinzugehen. Zugleich müssen die Künstler in dieser Situation anders denken, vielleicht sogar kleiner. Aber die Chance, vielleicht einem anderen Publikum zu begegnen, war uns das wert.
k.west: Welche Begegnungen ermöglicht und bietet das Unionviertel
Bergmann: Es war uns wichtig, dass wir die Räume, die wir nutzen, nicht wieder sozial determinieren. Deswegen gehen wir mit einer Hochzeitsfeier, der Produktion »Hypergamie – Hochzeit mit Hindernissen« von der mix-abled Performance-Kompanie dorisdean, in ein Begegnungszentrum für ältere Menschen. Wir haben das mal spielerisch als bewusste Deplatzierung des gesamten Festivals bezeichnet. Deswegen haben wir ein eigenes Festivalzentrum erfunden.
Albrecht: Genau, diesen Autoscooter, der auf der Brache hinter dem U stehen wird. Den verbindet zunächst nichts mit dem Theater. Dafür ist er etwas, das die Leute kennen. Er setzt ein Zeichen. So sehen die Menschen hier: Da passiert etwas, und sie werden neugierig. So kann man sie mitnehmen in die Räume des Festivals, ins Senioren-Begegnungszentrum, in die Wohnungslosen-Küche, ins Haus der Vielfalt, und ihnen etwas zeigen, was sonst an diesen Orten eher nicht stattfindet.
k.west: Daraus ergeben sich spezielle Anforderungen an die ausgewählten Arbeiten …
Bergmann: Ja. Die Idee ist, mit Arbeiten in das Festival und das Viertel zu gehen, die eine Art von Teilhabe zulassen, ohne dass sie es zwingend erfordern, die eine Offenheit haben, mit Besuchern umzugehen. Beispielhaft dafür ist eine Produktion wie »Geisterbahn«. Die Künstlergruppe Kommando Himmelfahrt hat eine Geisterbahn gebaut, durch die der Zuschauer sich gut 60 Minuten bewegt. Dabei erlebt er ein von Texten des französischen Aufklärers Julien Offray de La Mettrie ausgehendes Musiktheater-Stück. So eröffnet sich ein anderer Zugang zu Kunst.
Albrecht: Es gibt aber auch Arbeiten, die ganz klar Theater sind. »GALA« von Jérôme Bel – zunächst klassisches Tanztheater. Gleichzeitig thematisiert diese Produktion auf elementare Weise Aspekte des Theaters, indem sie Profitänzer und Laien, Menschen mit und ohne Behinderung in einer Choreografie zusammenbringt. Es geht um Gemeinschaft und wie sie entsteht. Auf der einen Seite eine ungeheuer avancierte Arbeit, auf der anderen leicht zugänglich. Dieser Spagat zwischen Avantgarde und sozialer Realität ist etwas, nach dem wir als Kuratoren gesucht haben.
k.west: Die »FAVORITEN« waren früher als Leistungsschau der freien Szene in NRW konzipiert. Lässt sich dieser Ansatz in einer Zeit der national wie international vernetzten Künstler und Gruppen wie Jérôme Bel und Monster Truck überhaupt noch aufrecht erhalten?
Albrecht: Regionale Abgrenzungen werden immer schwieriger. Aber zu Jérôme Bel kann man sagen, dass die Fassung von »GALA«, die wir zeigen, eigens für Düsseldorf entstand.
Bergmann: Und »Made For Love«, die neueste Arbeit von Monster Truck, wird nicht nur vom Ringlokschuppen Mülheim, sondern auch vom Festival koproduziert. Die Premiere der sehr eigenwilligen Form von Objekt-Theater, bei dem Produkte des Alltags mit Menschen untereinander in Interaktion treten, findet im Rahmen der »FAVORITEN« statt.
Albrecht: Die Situation innerhalb der freien Szene ist heute eine andere. Immer mehr Gruppen sind so aufgestellt, dass ein Mitglied in Berlin, eines in Frankfurt und eines in Nordrhein-Westfalen lebt. Das hat Vorteile bei der Beantragung von Fördergeldern. Aber so kommt auch eine neue Realität zustande – diesen Umbruch bildet das Festival ab.
Bergmann: Trotzdem haben wir noch viele reine NRW-Arbeiten im Programm. So eröffnen wir mit Amir Reza Koohestanis »Taxigeschichten«, einer Produktion des Theaters Oberhausen und des Pumpenhauses Münster. Dabei ist besonders reizvoll, dass in ihr Formen von Theater und Film verschwimmen. Die Leichtigkeit, mit der Koohestani ein Abbild der Realität im Theater herstellt, ist sehr offen und deshalb für uns genau richtig.
k.west: Diese Arbeit spiegelt zugleich einen weiteren Trend: die verstärkte Zusammenarbeit zwischen freien Künstlern und Stadttheatern.
Bergmann: Uns war wichtig, auch diese Seite des Spektrums zu zeigen. Die »Taxigeschichten« und »Das Glitzern der Welt«, eine klandestine Reise durch Dortmund, die das kainkollektiv für das Schauspiel Dortmund entwickelt hat, zeugen von unterschiedlichsten Produktionsweisen, die heute alltäglich sind. Die Frage, was ist die freie Szene in NRW, lässt sich nun mal nicht mehr so klar beantworten wie vor 30 Jahren. Dabei geht es nicht nur um die regionale Verortung. Noch schillernder sind die Produktionsweisen. Man kann sich schon fragen, ist das noch freie Szene oder doch schon Stadttheater? Und dann sind da Arbeiten, die wie Ben J. Riepes »Livebox: Persona« ihren Ursprung im Museumskontext haben. Aus dem »Untitled: Persona«-Projekt wird auf dem Festival ein Livebox-Event im eigens dafür entworfenen Bühnenformat.
k.west: Ist es überhaupt noch möglich, im Rahmen eines Festivals die Bandbreite der freien Szene abzubilden?
Bergmann: Nur auf Umwegen. Es geht darum, der Komplexität gerecht zu werden, indem man sie versammelt. Eine sich mit Genderfragen beschäftigende Arbeit wie »Reading Salomé« von Johannes Müller und Philine Rinnert neben Rolf Dennemanns Theater-Installation »50 Menschen – Du bist ein Kunstwerk«, in der die Zuschauer gleichsam als Museumsbesucher zwischen den 50 Performern wandern, die eigentlich nur sich selbst darstellen. Wir haben also versucht, möglichst viele Ideen und Formate einzubeziehen. Aber in einem wesentlichen Punkt laufen sie doch zusammen, in der Frage: Wie kann das Theater die gefälschte Realität von heute gleichzeitig abbilden und unterlaufen? Dieser Frage nehmen sich Matthaei & Konsorten zum Abschluss direkt an. Am letzten Festivaltag feiern sie unter dem Titel »Coop 3000« eine »neosolidarische Concerngründung«. Das ist ein Versuch, vor Ort an dem zumindest in der wirtschaftlichen Realität in Verruf und Vergessenheit geratenen Begriff der Solidarität neu zu arbeiten. Zugleich verlängert dieses auf ein Jahr angelegte Projekt das Festival über seinen kurzzeitigen Auftritt hinaus. Es geht weiter, auch wenn wir schon längst weg sind. Auch geografisch wird sich »Coop 3000« ausweiten, über das gesamte Ruhrgebiet.
Albrecht: Der Weg von der Eröffnung mit den »Taxigeschichten« hin zu dem Ball, mit dem das »Coop 3000«-Projekt eröffnet wird, hat einen klaren Bogen, der die gegenwärtigen Möglichkeiten von Theater umspannt. Zu Beginn finden die Geschichten, die unsere Wirklichkeit abbilden, auf der Bühne statt, und wir schauen zu. Am Ende sind wir alle Teilnehmer an diesem Ball und haben die Chance, im Rahmen des Konzerns Gemeinschaften zu bilden, die wiederum die Wirklichkeit neu gestalten können.