Die Sätze, die fallen, kann man zählen. Das ist bei Aki Kaurismäki so – und bei David Bösch nicht anders. Die Lakonie des Ungesagten allerdings wird auf der Bühne der Bochumer Kammerspiele, wo es streng nach Torf und feuchter Pappe riecht, anders hergestellt und gewährleistet, als in der finnischen Film-Elegie von 1990. Bösch und Company entwickeln ihre eigene Sprache, es ist die des Stummfilms. Gelegentlich kommt die Pantomime zu Worte, meist übersetzt sich die Handlung in beredte Haltungen, Ausdrucksweisen und gestische Veranschaulichung, manchmal spaßhaft und kräftig pointiert, oftmals herzzerreißend. Mit seiner Inszenierung von »Das Mädchen aus der Streichholzfabrik« ist David Bösch bei sich angekommen, ganz mit sich im Reinen und in seinem Element: ein Abend des absoluten Gefühls, der Trauer, Sehnsucht und Rebellion atmet. Die zärtlich lebenswarme lyrische Ballade über ein Frauenschicksal.
Sinnentleerte Beschäftigungsmaßnahme
Auf Iris fallen Streichhölzer, als sei sie die Pech-Marie im Märchen. Beim zweiten Mal lässt sich die Ausschüttung Zeit, wie um sie zu foppen. Aber dann fallen die Späne doch wieder auf sie herab. Iris strampelt sich ab, während der Erzähler (Daniel Stock, der in mehreren Rollen zwischen fiesem Stenz und bravem Kerl changiert) uns mit ihrem Geschick bekannt macht. Auf einem Fahrrad tritt sie ins Pedal, um wie ein Dynamo das Fließband zu betätigen, das Häcksel transportiert. Arbeit als sinnentleerte Beschäftigungsmaßnahme. Was auf der Bühne (Franziska Gebhardt) steht, kann sich nicht mal Sperrmüll schimpfen. Bloß Kartons und einige Paletten, die sich zu Iris’ Bettgestell stapeln. An der Wand hängen Plakate von »Doktor Schiwago« und »Casablanca« – Traumwelten für Iris wie ihre Groschenhefte.
Sie hat die Ausflucht bitter nötig. Im Elternhaus hängt die Mutter (Anne Knaak) trübe ihrer Vergangenheit nach, der Stiefvater (Matthias Redlhammer) fummelt an der Fernbedienung des Fernsehers und trommelt Befehle auf den Esstisch. Suppe und Kaffee sind dünn. Ihren Lohn muss Iris abgeben. Einmal kauft sie sich für teures Geld ein rotes Kleid, da zieht der Hausvorstand den Gürtel. Mit dem Kleid findet sie im Tanzlokal einen Geliebten, der nach einer Nacht nichts mehr von ihr wissen will und erst recht nicht, als sie schwanger wird. Das Kind verliert sie, verstoßen wird sie trotzdem. Iris kauft Rattengift für die drei Missetäter.
Wie aus einem Kaleko-Gedicht
Nach einer Viertelstunde hebt das Mädchen Iris den Finger und sagt als erstes »Ich«. Bei einem ganzen Satz hält sie sich vor Schreck schon die Hand vor den Mund. Es ist der Abend der Maja Beckmann, die – zum Abschied nach einem Dutzend Jahren am Bochumer Schauspielhaus unter drei Intendanten – die Rinnstein-Prinzessin spielt wie aus einem Gedicht der Mascha Kaleko; zart wie eine Tuschezeichnung, hell, klar und durchsichtig. Eine Flamme, die aufscheint, flackert und verlischt, wie die Kerze, die sie nach einer letzten Zigarette am Ende auslöscht. Sie streicht sich das feine blonde Haar hinters Ohr, malt Kreise in die Luft für sich im Tanz drehende Paare, nuckelt an einer Cola, reckt sogar mal den Arm mit der geballten Faust, wenn sie ihren sozialistischen Bruder grüßt – aber das Politische bringt keine Erlösung. Sie zappelt und hibbelt, schaut scheu und bangen Herzens, probiert eine Chapliniade, wenn sie im Telefonhörer träumerisch eine Blüte findet, und strahlt ein bisschen im kurzen falschen Glück. Da rieselt es dann golden auf sie nieder, bunte Glühbirnen flimmern, und die Discokugel streut Licht wie Sternenstaub.
Doch die Wirklichkeit ist nicht magic, sondern trist, gemein und grausam und das rote Kleid bald kein Zaubergewand mehr, sondern ein Häufchen Stoff. Verwundert und verwundet stößt Iris sich blutig an der Welt. Ihr Weh wird uns mit aller Härte vorgeführt, aber so, dass es dem Theater wohl getan hat.