Umgeben von großen Eichen und weiten Feldern im ostwestfälischen Versmold steht das Kunsthaus Helleweg. Hier inmitten des ländlichen Idylls gibt der alte Fachwerkkotten mit seinen romantischen Sprossenfenstern, den tannengrünen Fensterläden und leuchtenden Außenwandlaternen ein nostalgisches Postkartenmotiv ab. Bei unserem ersten Besuch im Dezember 2022 wird im Kunsthaus noch geforscht: Wie könnten künftige Residenzen aussehen? Was wird gebraucht? Wer macht wohl mit? Ein gemütliches Winterfest lädt Neugierige auf den Hof ein. Etwa 20 Menschen sind gekommen, einige von ihnen stehen im Halbkreis um eine Feuerschale, andere wärmen sich auf Bierbänken in der Scheune ihre Hände an heißem Tee. Die Projektleiterinnen Laura Zielinski und Marlene Helling führen gerade Gäste durchs Haus. Marlene hat viel zu erzählen über diesen ehemaligen Bauernhof – schließlich ist er nicht nur geschichtsträchtig, sondern gehört bereits seit Jahrhunderten ihrer Familie: 1692 war der Hof erstmals erwähnt worden. Noch bis 1962 wurde er landwirtschaftlich genutzt, ehe ihre Großeltern die Stallungen in den 70er Jahren zu Wohnräumen umbauten. Seither wurden hier zahlreiche Familienfeste gefeiert bis der Performerin und ihrem Bruder, dem Jazzmusiker Jakob Helling, die Idee kam, einen Residenzort für Künstler*innen zu errichten. Drei Wochen lang im Sommer eines jeden Jahres soll das Haus Helleweg nun Künstler*innen einen Raum für fokussierte Projektarbeit bieten. Hier können sie recherchieren, texten, tanzen, forschen, brainstormen und proben. Helling und Zielinski kennen sich bereits seit ihrem Studium der Szenischen Forschung in Bochum. Dass sie das Kunsthaus gemeinsam leiten, ist Resultat einer langjährigen Zusammenarbeit in der Szene – ob als Performerinnen, Produktionsleiterinnen oder Dramaturginnen.
Öffnet man die schwere Eingangstür des Fachwerkhauses, ist es genau so, wie man sich einen umgebauten Hof aus dem 17. Jahrhundert vorstellt: hölzern, urig, gemütlich. In der Mitte der mit Cottofliesen ausgelegten Tenne steht ein Holzesstisch mit Stühlen, darüber hängt ein altes Wagenrad, links eine hölzerne Egge über einer massiven Eichentruhe. Zwei kleine Türen haben vermutlich früher zu kompakten Ställen geführt; heute findet man hier rosa geflieste Badezimmer. Im angrenzenden Wohnzimmer ist es ein bisschen wie bei Oma: ein Kamin brennt, eine Kuckucksuhr hängt an der Wand neben Schwarz-Weiß-Porträts in goldenen Rahmen, die Samtsofas sehen so aus, als könnten sie ganze Körper verschlucken und der gesamte Raum strahlt Geborgenheit aus. Hier ist die Zeit stehengeblieben und vielleicht fühlt es sich gerade deshalb so an, als hätte man diesen Raum schon hunderte Male betreten – man kann sich gut vorstellen, wie Künstler*innen hier ganz und gar in ihrer Arbeit versinken.
Doch den beiden Leiterinnen ist eines besonders wichtig: Im Kunsthaus Helleweg sollen keine Großstadtkreative sitzen, die hinter verschlossener Tür ihr Ding machen. Vielmehr ist Helleweg ein Ort, der beides kann: ein störfreier Raum für Projektarbeit sowie ein Ort für Zusammenkunft von Resident*innen und Versmolder*innen zu sein.
Aus diesem Grund wollen sie Ortsansässige aktiv in ihr Programm einbeziehen – mit Pat*innenschaften für die Residierenden. Die Versmolder Nachbarschaft zeigt sich offen für solch gemeinsame Wege: »Wir kommen von einer Wiese weiter«, erzählt eine Dame beim Winterfest, die sich über die jungen Künstler*innen vor Ort freut: »So kommt Kunst und Kultur auch zu uns in den letzten Winkel«. Ein anderer Nachbar ist selbst Musiker und weiß, wie wichtig die Vernetzung von Künstler*innen ist: »Ein Motto in der Rockmusik ist: You’ll never walk alone. Man muss zusammenarbeiten – alleine macht das doch keinen Spaß!« Dass seine Band, die Krosse Krabbe, schon im folgenden Sommer mit einer Residentin ein Lied komponieren wird, weiß er zu diesem Zeitpunkt noch nicht.
Ein halbes Jahr später: Die Sonne strahlt, die großen Bäume werfen kühle Schatten auf den Hof, Bierbänke stehen unter weißen Pavillons, auf der Wiese blüht wilder Löwenzahn, daneben leuchtet das Sonnenblumenfeld. Es wird gefeiert: Die erste große Sommerresidenz mit dem Titel »2900m²« geht zu Ende und die Künstler*innen präsentieren ihre Ergebnisse. Aus insgesamt 50 Bewerbungen wurden drei Projekte ausgewählt, an denen im August 2023 im Kunsthaus gearbeitet wurde: Die Brasilianer*innen Vito O. Az und Marina Fervenza aus Bochum forschen mit Soundarbeiten zum Thema Willkommenskultur. Gemeinsam mit ihrer Versmolder Patin Marie Baumeister sind sie während der Residenz umhergefahren und haben Interviews mit Menschen aus der Umgebung geführt. Aus dem Material sind sechs Hörspiele entstanden. Auch die Patenschaft der Tänzerinnen Maren Zimmermann und Diana Treder mit dem ortsansässigen Bauern Michel Klack trug ihre Früchte: Er erklärte ihnen die Landwirtschaft, sie nutzten die Erde seines Feldes für ihre Performance. Die Bielefelder Singer-Songwriterin und Multiinstrumentalistin Lucy Liebe arbeitete im Kunsthaus Helleweg an ihrem Debutalbum über genderqueere Perspektiven. Auf der Suche nach einem Schlagzeug wurde sie nur wenige Gehminuten vom Kunsthaus entfernt fündig – im Proberaum der Band Krosse Krabbe. Hier durfte sie nicht nur spielen, es entstand auch ein gemeinsamer Song über Helleweg. Die Worte des Versmolder Musikers hallen nach: »You’ll never walk alone«.
Die Idee von Marlene Helling und Laura Zielinski scheint aufzugehen: Durch Pat*innen und die Vernetzung mit dem ortsansässigen Kunstverein entsteht bei den Residenzen ein Miteinander von Stadt und Land. Doch auch für kürzere Aufenthalte kann das Haus auf eigene Kosten gemietet werden. Erst kürzlich machte die Band hilde davon Gebrauch. Das Alleinstellungsmerkmal des Kunsthauses in Versmold sei ganz klar die friedliche Ruhe, berichtet Cellistin Emily Wittbrodt. Kurz vor dem Release ihres zweiten Albums »Tide« zogen sich die Musikerinnen in das Kunsthaus zurück, um ungestört zu proben. Wittbrodt startete jeden Tag mit einem Spaziergang, um die Atmosphäre auszukosten: »Das hat man in Köln nicht, dass man rausgeht und direkt Kühe trifft«, freut sie sich. Schnell seien entschleunigende Rituale entstanden: »Jeden Morgen habe ich Feuerholz aus dem Schuppen geholt, um den Kamin anzumachen. Danach starteten die Proben bei Kerzenschein unter Ahnenporträts.«
Voraussichtlich Ende April 2024 wird der Open Call für die nächste Residenz ausgerufen. Neben den Sommerresidenzen sollen jetzt aber auch regelmäßige Veranstaltungen unter dem Titel »Kunsthauskiosk« in Helleweg stattfinden. Eröffnet wird die Reihe mit einer Planwagenfahrt, die an verschiedenen Kunstaktionen und Interventionen vorbeiführt. Wie die Leiterinnen darauf kamen? Als die Planwagenfahrt eines trinkfesten Junggesellenabschied das Sommerfest crashte, war das Inspiration in ihrer pursten Form. Eine kulturelle Symbiose eben.