Kino, Konzert, Oper, Tanz – endlich ist es wieder da: das Kulturleben außerhalb der eigenen vier Wände. Aber ist das noch Freizeit oder schon Stress? Und wie wichtig ist eigentlich das Nichtstun? Ein Gespräch mit der Arbeits- und Organisationspsychologin Sabrina Krauss über freie Zeit – und wie man sie sinnvoll nutzt.
kultur.west: Frau Krauss, fangen wir mal ganz kompliziert an: Was ist denn eigentlich Freizeit?
KRAUSS: Im Grunde ist Freizeit das, was es für den Einzelnen bedeutet. Einige Definitionen sagen, Freizeit ist das, was anfängt, wenn die Erwerbsarbeit endet. Andere sagen, es ist so etwas wie Quality Time, also nur der Teil des Tages, der übrig bleibt, wenn wir die Erwerbsarbeit abziehen, aber auch Tätigkeiten wie Hausarbeit, Kindererziehung oder Gartenarbeit. Das Thema Freizeit ist wissenschaftlich ein bisschen stiefkindlich behandelt. Es spielt vor allen Dingen vor dem Hintergrund des gesellschaftlichen Wandels eine Rolle. In den 50er Jahren war Freizeit Erholungszeit, man machte eher nichts, man ruhte sich aus. Heute füllt man Freizeit mit Dingen, die irgendwie auch social-media-fähig, die besonders sind.
kultur.west: Erschrecken nicht viele Leute wenn sie merken, dass Hausarbeit, Gartenarbeit oder Kindererziehung eigentlich nicht zur Freizeit zählen? Wie viel Freizeit hat man dann noch?
KRAUSS: Die Frage ist: Was bleibt für mich übrig? Da sind wir tief in der Psychologie wo es immer heißt, man muss ein Gegengewicht setzen zu den Belastungen des Alltags, die häufig durch Arbeit zustande kommen. Aber Arbeit ist nicht der einzige Belastungsfaktor in unserem Leben, sondern gerade auch die Dinge, die man zu Hause tut, also Hausarbeit, Kindererziehung, vielleicht sogar ein zu großer Garten. Streng genommen könnte man die auch zur Freizeit rechnen, weil es außerhalb der Erwerbsarbeit ist, aber gerade wenn wir es vor dem Hintergrund des Belastungs-Beanspruchungs-Denkens betrachten, bleibt nur der Teil der Zeit übrig, den die Person pro Tag hat, wenn sie alle Aufgaben erfüllt hat. Ich als Psychologin frage dann: Soll das denn so? Und die Antwort ist meist: eigentlich nicht! Jede Person kann letztendlich selbst entscheiden, ob sie das ändern möchte – jeder hat ein Recht auf Selbstzerstörung.
kultur.west: Aber wie füllt man die Zeit, die bleibt?
KRAUSS: Viele Leute, die geschafft und kaputt sind, machen dysfunktionale Sachen, die nicht dazu beitragen, dass Stresshormone abgebaut werden, sie setzen sich zum Beispiel vor den Fernseher. Obwohl jeder weiß, dass Bewegung, dass Mußezeit gut täte. Für mich als Psychologin ist das der interessante Teil, mit den Leuten hinzuschauen, wie sie ihre Freizeit verleben.
kultur.west: Und wie verleben die Menschen ihre Freizeit? Hat man heute auch das Ziel, besonders interessante Dinge zu machen, vielleicht auch um gut dazustehen?
KRAUSS: Wir haben eine gesellschaftliche Entwicklung, die hin zur Erlebnisgesellschaft geht, das wird multipliziert durch Digitalisierung. Sie erzählen es nicht mehr nur der Freundin am Telefon, sondern Sie posten es direkt und dann können es alle sehen. Dadurch entsteht ein indirekter Wettbewerb, wer die coolere Freizeit verlebt. Es entsteht dann auch möglicherweise so etwas wie Freizeitstress, weil der ein oder andere sich denkt, ich würde gerne einmal den Nachmittag einfach nur im Garten liegen und ein Buch lesen oder den Vögeln zuhören. Sieht dann aber, dass alle Freunde gerade erlebnisreiche Freizeitprogramme machen. Die sind im Urlaub, im Freizeitpark, Klettern, Inlinern. Es gibt aber auch Menschen die sagen, das ist mir egal, macht ihr euer Freizeit-ADHS, ich bleib trotzdem auf meiner Gartenliege.
kultur.west: Ist das bewusste Abschalten nicht auch schon wieder eine derzeit sehr propagierte Bewegung?
KRAUSS: Gerade in Unternehmen erfährt das Thema Achtsamkeit einen Aufschwung. Damit die Leute überhaupt mal wieder zur Ruhe finden in der Vielzahl an Angeboten. Es gibt einen Begriff in der Psychologie, der nennt sich Dynaxität, das ist eine Mischung aus Dynamik und Komplexität. Alles ist viel schneller und viel komplexer geworden. Als wir Kinder waren und in den Supermarkt gegangen sind, da gab es vielleicht drei Joghurtsorten. Wenn man heute in den Supermarkt geht, gibt es drei Regale voll. Heute braucht man allein viel mehr Zeit für die Entscheidung, hat die aber nicht.
Früher hatten wir außerdem mehr Zwangspausen. Man konnte zum Beispiel samstags bis 13 Uhr einkaufen, danach hatten die Geschäfte zu, dann musste man sich im Zweifel auf der Couch langweilen und aushalten. In dieser Zeit hat unser Gehirn aber gute Arbeit geleistet, hat nämlich aufgeräumt. Durch die entfallenden Zwangspausen ist man heute immer beschäftigt und unser Gehirn kommt gar nicht hinterher, weil wir die ganzen Reize, die wir aufnehmen, nicht verarbeiten können.
kultur.west: Können sich erwachsene Menschen denn überhaupt langweilen?
KRAUSS: Man sagt ja, kluge Menschen können sich nicht langweilen. Die Meinung teile ich nicht. Langeweile ist, wenn man in die Definition guckt, das unangenehme Gefühl, eine zufriedenstellende Tätigkeit ausführen zu wollen, aber nicht zu können. Die Umstände können unterschiedlich sein, entweder sie haben gar nichts zu tun, und wollen irgendetwas Schönes machen, oder Sie müssen eine monotone Tätigkeit ausführen, die Ihnen gar nicht gefällt. Dann passiert Langeweile, das Hirn fängt an zu wandern und Sie versuchen, andere Szenarien zu erdenken. Es gibt Leute, die essen aus Langeweile oder nehmen Drogen. Langeweile kann aber auch dazu führen, dass man unglaublich kreativ wird, dass das Gehirn sich sortiert. Alles was neu und noch nie dagewesen ist, passiert in der Regel nicht, wenn die Leute verkrampft versuchen, diese Idee jetzt zu haben, sondern das passiert, unter der Dusche, beim Joggen in ganz anderen Kontexten.
kultur.west: Warum wollen wir Langeweile dann so dringend vermeiden?
KRAUSS: Was wir gesellschaftlich beobachten, ist, dass Kinder nicht mehr lernen, Langweile auszuhalten. Als wir klein waren, waren lange Autofahrten langweilig. Wir haben Regentropfen am Fenster oder Nummernschilder gezählt. Man hat versucht, sich irgendwie selbst zu beschäftigen. Diese Fähigkeit wird heute nicht mehr trainiert, weil meistens iPads oder andere digitale Geräte da sind, sobald ein Kind sich langweilt. Dieses Angebot in der Dynaxität ist so groß, dass Situationen, in denen man überhaupt Langeweile empfinden könnte, sehr selten geworden sind. Das führt dazu, dass die Leute, wenn dann wirklich mal nichts zur Verfügung steht, unruhig werden, weil sie das nie gelernt haben. Ablenkung ist manchmal gut, aber sich ständig abzulenken, kann psychische Erkrankungen fördern. Da setzt aber auch der Achtsamkeitsgedanke an. Früher in den 50ern hieß es: Sitz nicht nur einfach da, tu etwas. Heute heißt es: Tu nicht immer was, sitz mal da.
kultur.west: Ist das Ihr Appell – einfach mal nichts zu machen?
KRAUSS: Psychisch gesunden Menschen in einem Leben voller digitaler Möglichkeiten und immer mehr Freizeitangeboten empfehle ich: langweilt euch doch mal! Nehmt euch doch mal ein Wochenende nichts vor, macht keine Pläne. Oft lenkt das auch den Fokus auf das, was einem im Leben tatsächlich wichtig ist, aber verschüttet unter einem Stapel von digitalen Pixeln und Geräuschen.
kultur.west: War in dieser Hinsicht die Corona-Pandemie förderlich? Viele Freizeitangebote sind weggefallen und die Leute hatten viel Zeit zu Hause.
KRAUSS: Wir müssen noch die Studien abwarten die dazu gerade laufen, die sind alle noch in der Auswertung. Aber viel hängt vom sozioökonomischen Status ab. Die Leute, die einen Garten hatten, vielleicht einen eigenen Pool, waren in der Regel erleichtert und haben gesagt: Jetzt muss ich gar keine coolen Instagram-Bilder rausschießen, ich bleibe einfach hier in meinem Garten und es ist gesellschaftlich legitimiert. Viele von ihnen fanden das super und es war deren Psyche auch zuträglich, obwohl die Gesamtsituation auch für sie belastend war. Natürlich in einem weitaus anderen Maß als eine vierköpfige Familie auf 60 Quadratmetern in einem Hochhaus. Die konnten gar nichts machen, konnten sich noch nicht mal aus dem Weg gehen. Das war ein völlig anderes Belastungslevel.
Prof. Dr. Sabrina Krauss ist Professorin für Psychologie und leitet seit 2018 die psychologischen Studiengänge der SRH Hochschule in NRW. Seit 2020 hat sie zusätzlich die Leitung des SRH Campus Rheinland inne. Darüber hinaus berät sie Unternehmen, coacht Führungskräfte und forscht zu den psychologischen Auswirkungen der Digitalisierung sowie Social Media und dem Zusammenhang von Langeweile und Kreativität.