In weiten Teilen der Welt wird der Nahost-Konflikt deutlich anders gesehen und beurteilt als hierzulande. Das ist nicht nur in der Region selbst oder in mehrheitlich islamisch geprägten Ländern der Fall: Auch in Großbritannien, Kanada und den USA sowie in vielen Staaten Afrikas werden Israel und sein Umgang mit den Palästinenser*innen heftig, mitunter radikal kritisiert. Besonders sensibel reagieren die Kulturszenen weltweit, in deren Fokus nun auch Deutschland geraten ist. Der Aufruf „Strike Germany“ fordert explizit zum Boykott deutscher Kultureinrichtungen und -veranstaltungen auf. Mehr als tausend Künstler*innen aus der ganzen Welt bezichtigen den deutschen Staat darin einer „McCarthy-ähnlichen Politik“, die jegliche „Solidarität mit Palästina“ unterdrücke. Zu den Unterzeichner*innen gehört Literatur-Nobelpreisträgerin Annie Ernaux.
Tatsächlich bekunden die politischen Akteur*innen in Bund, Ländern und Kommunen nicht nur immer wieder ihre eigene Solidarität mit Israel, sondern erwarten das auch von den Kulturinstitutionen. Das Museum Folkwang in Essen beendete in der Folge die Zusammenarbeit mit dem hawaiianischen Kurator Anaïs Duplan, der sich mehrfach öffentlich zur in Teilen offen antisemitischen BDS-Bewegung bekannt hatte. Bislang prominentester Fall ist aber die jüngst mit einem Grammy für ihr Lebenswerk ausgezeichnete Konzeptkünstlerin Laurie Anderson. Sie verzichtete darauf, ihre Pina-Bausch-Professur an der Folkwang Universität anzutreten. Bereits vor drei Jahren hatte Anderson den von palästinensischen Künstler*innen initiierten „Letter against Apartheid“ unterschrieben, der Israel eine Kolonialmacht nennt und der Apartheid bezichtigt. Für den Antisemitismusbeauftragten der Bundesregierung, Felix Klein, ist das ein „antisemitisches Narrativ“. Dem widersprechen allerdings viele namhafte Wissenschaftler*innen, darunter Amos Goldberg, der Professor für Holocaust-Geschichte an der Hebräischen Universität Jerusalem ist. Und jetzt?
Die größte Herausforderung besteht angesichts der NS-Geschichte darin zu verhindern, dass hierzulande je wieder mit öffentlichen Mitteln antisemitische Propaganda hergestellt und verbreitet wird – die documenta15 lässt grüßen. Dafür suchen NRW-Kulturministerin Ina Brandes und ihre Amtskolleg*innen aus den Ländern aktuell zusammen mit Kulturstaatsministerin Claudia Roth nach einem rechtssicheren Verfahren. Berlins Kultursenator Joe Chialo musste bereits eine im Dezember eingeführte „Antidiskriminierungsklausel“ im Januar wieder kassieren, weil der Passus zum Antisemitismus verwaltungs- und verfassungsrechtlich nicht haltbar war. Denn erstens greift der grundgesetzliche Schutz der Kunst- und Meinungsfreiheit sehr weit; er gilt sogar für antisemitische Äußerungen, wenn sie nicht volksverhetzend sind oder eine konkrete Person beleidigen. Zweitens stellt sich die Frage, ob Künstler*innen auch wegen nicht strafbarer politischer Aussagen von öffentlich geförderten Kulturprojekten ausgeschlossen werden sollten. Und wenn ja: Was sind die Maßstäbe und wer überwacht ihre Einhaltung? Der Verdacht der Gesinnungsprüfung ließe sich jedenfalls kaum vermeiden. Über mögliche Lösungen beraten die Länder beim nächsten Treffen der Kulturminister*innen am 13. März in Berlin. Alle wissen: Der Ruf Deutschlands als weltoffener Kulturstaat steht auf dem Spiel.