Wer in Essen zur Fernbushaltestelle will, muss den Schildern Richtung »Freiheit« folgen. So heißt der zugige Streifen Land zwischen Hauptbahnhof und der ewig rauschenden Autobahn A40. Dieselnde Busse, Kreisverkehr, Abfälle der Nacht. Kein Ort, um länger als nötig zu verweilen. Der grünlackierte Fernbus ist noch leer, ein Zettel hinter der Windschutzscheibe informiert über das Fahrtziel. Der Busfahrer ist gut gelaunt, spricht einen freundlich schwäbischen Akzent und könnte mit seiner Weste, dem Schnäuzer und Bürstenhaarschnitt auch als Tresen wischender Eckkneipenwirt aus Essen-Vogelheim durchgehen.
Dem lieblos ausgedruckten Ticket ist zu entnehmen, dass bis Bonn zwei Zwischenstopps in Düsseldorf und Leverkusen eingelegt werden. Der Bus ist nun halbvoll und biegt alsbald auf die Autobahn. Der Fahrer macht eine Durchsage, dass die Toilette nur für den Notfall da sei, was direkt mehrere Fahrgäste bemüßigt, eine persönliche Notfallübung durchzuspielen und die spindgroße Bedürfnisapparatur zu benutzen; zehn Minuten nach Fahrtbeginn. Eine türkische Frau, die stehend im Mittelgang gestenreich auf ihren Begleiter einredet, wird per klarer Aufforderung auf ihren Platz zurückgescheucht.
Zähflüssig geht es in die Düsseldorfer Innenstadt hinein, zähflüssig wieder hinaus. Rote Welle. Beim kurzen Stopp steigen einige Passagiere zu, Gepäckstücke werden vom Busfahrer verräumt. Nächster Halt Leverkusen. Der Platz vor dem dortigen Hauptbahnhof gleicht dem Raumhafen Mos Eisley auf dem Planeten Tatooine. Hektik, Geschäftigkeit, grollende Rollkoffer auf Asphalt. Hier kreuzen sich eine Menge Fernbuslinien aus ganz Europa. Es wird umgestiegen und nach Anschluss gesucht. Mitarbeiter der Buslinien schwirren, bewaffnet mit Headset und Tablet, durch das Chaos und dirigieren die Reisenden in das richtige Gefährt. 15 Minuten Aufenthalt, die von Einigen für den Konsum von Rauchwaren genutzt werden. Von Leverkusen nach Bonn ist es gefühlt ein Katzensprung. Die Haltestelle befindet sich direkt hinter der Bundeskunsthalle. Punktlandung, auch wenn ein Rollkoffer-Japaner ungläubig fragt, wo er denn hier gelandet sei, das sei ja wohl nicht die Innenstadt und daraufhin Richtung U-Bahn verwiesen wird.
Das Blöde an einer Fernbusreise ist, dass nicht alle 30 Minuten ein Bus zurück nach Essen fährt. Das Leben ist kein Ponyhof und ein Fernbus keine S-Bahn. Aber das weiß man vorher – erst um 17 Uhr soll es heimwärts gehen. Zeit satt, um touristisch umherzustreifen. An Museen herrscht hier kein Mangel, oder man spaziert zum nahen Rhein, um eine prächtige Bratwurst mit Blick auf das Siebengebirge zu verzehren.
Man solle eine halbe Stunde vor Abfahrt an der Haltestelle sein. So verlangt es streng das Ticket. 17 Uhr. Der Bus ist nicht da. Kann passieren, schließlich kommt er aus München. Der karge Bonner Fernbusbahnhof an der Joseph-Beuys-Allee besteht aus mehreren diagonalen Haltespuren, eingeklemmt zwischen Parkhaus und dem linksrheinischen Hauptschienenstrang. In kleinen Infokästen klemmen die Fahrpläne der einzelnen Linien, darunter auch Verbindungen nach Polen. Keine Sitzgelegenheiten, kein Regendach, keine Toiletten. Stattdessen dürre Büsche und zwei grobe Natursteinbrocken, die der Rhein vor Äonen aus der Schweiz herangerollt haben könnte. Ein Ort wie ein Bühnenbild für ein Stück von Beckett – Godot kam auch nicht. 17:30 Uhr. Kein Bus. Zwei junge Frauen haben es sich auf der Bordsteinkante bequem gemacht; sie warten auf den Bus nach Aachen, der, man ahnt es – ebenfalls nicht kommt. Andere nutzen die Steine als temporäre Sitzgelegenheiten.
18 Uhr. Vor fünf Minuten kam ein Bus. Nach Frankfurt. Züge rattern vorbei, Autos bringen schwatzende Menschen, die zur Vernissage in die Bundeskunsthalle wollen. Wer von den Wartenden zur Toilette muss, traut sich nicht in das zwei Minuten entfernte Museum, weil in der Zeit der Bus kommen könnte. Könnte. Ein Bus nach Aachen erscheint, mit ihm verschwinden die beiden Frauen aus der Welt. Zurück bleibt ein schief grinsender, entspannter Pole, der an diesem Abend noch nach Warschau möchte und mit prallgefüllten Kunststofftaschen, mit Panzerband verklebt, bepackt ist. Er kennt das mit den Verspätungen – tragisch sei das nicht, sagt er in einer Mischung aus Deutsch und Englisch und ist sich sicher: »Bus wird ankommen!«
Auf der Webseite des Fernbusunternehmens wird das Gefährt nach Essen nun mit zwei Stunden Verspätung angezeigt. Die Hoffnung stirbt zwar zuletzt, aber sie stirbt. Der Bus verschwindet nämlich nach weiteren 30 Minuten einfach von der Webseite, als hätte es ihn nie gegeben. Nächste Abfahrt: morgen früh. Dann eben nicht! Man könnte jetzt die vorbeirasenden Züge anschreien, was aber nichts bringen würde und belässt es dabei, dem Polen gute Fahrt sowie ein ebenso gutes Leben zu wünschen und sich Richtung Bonner Hauptbahnhof aufzumachen. Er winkt zum Abschied und bleibt allein zurück im Beckett-Bühnenbild.
Es folgt eine zufällig perfekt getaktete Rückfahrt ins Ruhrgebiet nach dem Motto ‚Nehmen, was kommt. Hauptsache voran’. Also mit der U-Bahn zum Bonner Hbf. Fünf Minuten Puffer bis zum wartenden Regionalexpress nach Köln. Dort den Fahrplan querlesen, der nächste direkte Zug nach Essen kommt in 50 Minuten, aber es fährt einer in fünf Minuten über Neuss nach Düsseldorf, wo weiterer Anschluss möglich ist. Die Fahrt nach Neuss führt durch die niederrheinische Tiefebene, hinein in einen scheinbar ewig dauernden Sonnenuntergang, der macht, dass alles herum orangefarben wird. Hohe Scheunen ziehen vorbei, Traktoren stehen auf den Äckern, Menschen sitzen vor den Häusern. Als führe man durch den mittleren Westen, nur dass die Bahnhöfe Namen wie Allerheiligen, Norf und Nievenheim tragen und die Weiler wie römische Zeltlager aus den Asterix-Comics klingen – Elvekum, Selikum. Das Licht schwindet langsam, der Zug quert die Rheinbrücke.
In Düsseldorf steht der leere doppelstöckige Regionalexpress am Gleis bereit. Innen hat man das unterkühlt-bläuliche Anti-Venen-Licht angeschaltet. Auf der Webseite des Busunternehmens ist zu lesen, dass es als Entschädigung für Ausfälle und Verspätungen Reisegutscheine gäbe. Für eine Fahrt mit dem Fernbus.
Nachtrag: Dank des neuen Bahnhofes »UN Campus« an der Joseph-Beuys-Allee kann man nun, ohne Umsteigen, mit dem Zug vom Kölner Hauptbahnhof direkt hinter die Bundeskunsthalle fahren.