Seit dem Terrorangriff der Hamas auf Israel und der Eskalation des Nahost-Konflikts im Herbst 2023 hat sich die Zahl der antisemitischen Vorfälle in Deutschland vervierfacht. Zugleich gibt es nur noch wenige Zeitzeugen und Shoah-Überlebende, die von den Schrecken der NS-Verfolgung erzählen können. Während Hanna Malka oder Margot Friedländer trotz ihres hohen Alters immer noch dafür kämpfen, die Erinnerung an den Holocaust wachzuhalten, sind viele der Überlebenden schon lange verstorben. Einer davon ist der in Bad Honnef geborene Journalist Harry Tallert. Als Sohn eines Juden war er 1944 in Gestapo-Haft gekommen, in der er bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges verblieb. Doch statt danach aus Deutschland zu fliehen, blieb er hier, wurde Mitglied der SPD und gehörte von 1965 bis 1972 dem Deutschen Bundestag an. Mit 57 wurde er Vater: Sein Sohn Kurt Tallert prägt nun seit mehr als 20 Jahren als Rapper und Produzent die rheinländische Musikkultur wesentlich mit. Er verlor den Vater mit zwölf, studierte Germanistik und Hispanistik und begann, mit Freunden Hip-Hop zu produzieren. Nun hat er sein literarisches Debüt vorgelegt, in der er die eigene Familiengeschichte ein Stück weit aufarbeitet.
Als Musiker hatte sich Kurt Tallert als »Retrogott« zunächst mit Battle Rap beschäftigt, dann Old-School-Beats und House ausprobiert. Sein Buch allerdings ist fern von jeglichen Wortwitzen oder Rap-Attitüden. Hier schreibt nicht »Retrogott«, sondern Kurt Tallert, Sohn eines damals sogenannten »Halbjuden«, der inzwischen selbst 37 Jahre alt ist und nach der Kindheit des Vaters sucht. Und begreifen will, wie dieser zunächst mit Freude bei der Hitlerjugend aktiv und stolz auf seinen damaligen Biolehrer als »arischer Archetyp« war. Zu verstehen versucht, wie das Absurde im Nationalsozialismus, seine Selbstentfremdung von der jüdischen Kultur und die spätere Distanz zu anderen Politikern, die während der NS-Zeit nicht verfolgt wurden, seinen Vater und sein Verständnis von der Welt prägte.
Während er als Kind nie mit seinem Vater über diese Dinge sprach und nur bei Klassenausflügen nach Buchenwald verständnislos die Teilnahmslosigkeit der anderen Mitschüler beobachtete, sucht Kurt Tallert in »Spur und Abweg« nun in Briefen, Tonaufnahmen und Familienaufzeichnungen nach einem Gedächtnis. Nicht nur nach dem seines Vaters und seiner Familie, sondern nach einem, das allgemein gelten kann. Nach einer Form der Erinnerung, die auch noch gilt, wenn alle Shoah-Überlebenden gestorben sind und nicht mehr von dieser Zeit erzählen können. Ein paar Rapzitate gibt es dann schließlich doch: »Solange es geistig tote Menschen gibt, die in einem geistigen Tod leben, also in einem geistigen Grab, braucht es jemanden, der dieses Grab öffnet und sie ins Leben zurückholt.«
Kurt Tallerts »Spur und Abweg« erscheint am 13. Februar 2024 im Dumont Verlag (240 Seiten, 24 Euro).