INTERVIEW: NICOLE STRECKER
Den Sommer über hatte Ballettdirektor Martin Schläpfer allein trainiert, seinen Körper schlank und fit getrimmt, denn sein Freund und Kollege, der 82-jährige Hans van Manen, choreografiert ein neues Ballett, mit Schläpfer als Tänzer. Seit vier Tagen wird geprobt. Zum Gespräch trifft man sich im komfortablen Hotel, das van Manen derzeit bewohnt. Der Meister sitzt edel gekleidet wie gewohnt auf dem Sofa, raucht und hat großes Vergnügen daran, Schläpfers Ernsthaftigkeit zu unterlaufen.
K.WEST: Herr Schläpfer, wie ist es, Werkzeug eines Kollegen zu sein?
SCHLÄPFER: Ich genieße das, und natürlich ist es ein großes Geschenk, mit Hans arbeiten zu dürfen.
VAN MANEN: Immer so lieb. (Er tätschelt väterlich-ironisch Schläpfers Schulter.)
K.WEST: Es ist tatsächlich etwas Besonderes, dass Sie, Herr van Manen, für das Ballett am Rhein ein Stück entwickeln. Sie choreografieren sonst ausschließlich für das Nederlands Dans Theater und Het Nationale Ballet Amsterdam.
VAN MANEN: Ich glaube auch, dass es das letzte Mal ist, dass ich außerhalb Hollands eine Choreografie mache. Aber mit Martin ist es sehr bequem. Er versorgt mich gut, ich habe ein fantastisches Hotel – das ist wichtig in meinem Alter.
K.WEST: Neben angenehmen Bedingungen gab es sicherlich auch künstlerische Gründe für die Zusammenarbeit?
VAN MANEN: Wir kennen einander seit etwa 32 Jahren. Das erste Mal bin ich ihm in Basel begegnet. Damals tanzte er noch beim Ballett von Heinz Spoerli. Ich kam als Gastchoreograf und wollte ihn unbedingt als einen meiner Tänzer haben. Als er mich dann einlud nach Bern – ich weiß nicht mehr mit welchem Ballett …
SCHLÄPFER: Die »Große Fuge« zu Beethoven-Kompositionen.
VAN MANEN: Was, gleich die »Große Fuge«? Na! Jedenfalls sah ich damals zwei Choreografien von ihm – und war wirklich erstaunt!
K.WEST: Ich habe gehört, Sie fügen in Ihre neue Choreografie Schläpfer-Zitate ein?
VAN MANEN: Ich stehle von ihm. Sie wissen, was Picasso und Strawinsky sagten. Beide wollten das Wort ›Inspiration‹ nicht benutzen, sie fanden es nicht schick genug. Deshalb sagten sie immer: ›Ich stehle, wo immer ich kann.‹
SCHLÄPFER: Es ist kein Stehlen, Hans, Du gestaltest um.
VAN MANEN: Ich verwende das Material in einer Form, die Du übersehen hast.
K.WEST: Sie verbessern?
VAN MANEN: Nicht verbessern. Man denkt: ›Uh, ist das gut! Damit kann man doch auch noch das und das machen.‹ Wenn man die Geschichte der bildenden Kunst des 20. Jahrhunderts studiert, erkennt man: Alle haben voneinander abgeguckt. Wer nicht abguckt, ist dumm.
K.WEST: Ihre Stile sind sehr unterschiedlich. Martin Schläpfer choreografiert, knapp gesagt, eher erdig, anarchisch, manchmal ausschweifend. Sie dagegen, Herr van Manen, suchen die absolute Reduktion, ohne Dekor und Gefühligkeit.
SCHLÄPFER (lacht verlegen): Also Hans sagt in den Proben immer zu mir: ›nicht leidend!‹ Ich nehme das Leben wahrscheinlich manchmal ein bisschen zu schwer. Eine direkte Dramatik interessiert Hans nicht. Er umzingelt starke Gefühle wie Aggression, Trauer eher. Er geht nicht direkt hinein in die Emotionen, aber macht sie trotzdem ganz deutlich.
VAN MANEN: Leiden finde ich nicht interessant. Ich finde auch Choreografien, die mit dem Tod enden, nicht interessant. Tanz sollte doch nicht Literatur sein! Die großen Emotionen sind oft so kommerziell. Ich weiß genau, womit ich keinen Erfolg haben will: mit großen Emotionen. Martin will das auch nicht.
SCHLÄPFER: Nein, aber sicherlich gibt es Unterschiede zwischen uns. Ich arbeite in den letzten Jahren sehr viel auf Spitze …
VAN MANEN: Und niemand benutzt die Spitze so originell wie Martin. Wenn so fantastische Choreografen wie Marius Petipa bei ihm zugucken und sehen könnten, was man mit Spitzenschuhen auch noch alles tun kann. Das Erstaunlichste dabei ist: Das Ballett am Rhein bleibt immer noch klassisch.
K.WEST: Worum geht es, wenn Sie sich über ästhetische Fragen austauschen?
VAN MANEN: Eigentlich nur um Essen.
SCHLÄPFER: Nein!
VAN MANEN: Es gibt eine Anekdote von Georges Braque und Pablo Picasso. Braque hatte ein kubistisches Bild gemalt und verbarg es unter einem Tuch. Picasso kam in sein Atelier, nahm das Tuch weg. Er betrachtete das Bild ganz lange, dann sagte er: ›Ich sehe ein Kaninchen.‹ Braque überarbeitete das Bild, nach einer Woche besuchte ihn Picasso erneut, sagte: ›Ich sehe immer noch ein Kaninchen.‹
K.WEST: Sehen Sie Kaninchen in Martin Schläpfers Balletten?
(Es entsteht eine unvermittelt ernste Pause. Hans van Manen schweigt und raucht.)
SCHLÄPFER: Ich habe mit keinem anderen Menschen einen solch’ inspirierenden Dialog über Tanz, manchmal ist es auch nur ein kleiner Satz, der etwas auslöst. Wir treffen uns, plötzlich zeigt Hans mir ein Stück von sich und sagt, das Stück hat eine Zeitlang gelegen, was denkst du? Wir reden auch viel über Kollegen, über andere Stücke …
VAN MANEN: Wir gossipen viel – das ist auch nötig. Aber alles wird so psychologisiert, das begreife ich nicht. Wenn ich ein Stück anschaue, sehe ich, wann die Schritte nicht mehr stimmen oder ob es mit der Musik nichts zu tun hat. Ich bin natürlich sehr kritisch, man kann nur Enthusiast sein, wenn man kritisch ist.
K.WEST: Aber auch auf Ihrer Bühne ist der Tanz nicht frei von Psychologie. Es geht nicht nur um Schritte oder Musikalität, sondern um Paarbeziehungen …
VAN MANEN: Es geht immer um menschliche Beziehungen, aber man kann doch einen Austausch haben, der weit geht, ohne dass es eine Formel dafür gibt.
SCHLÄPFER: Was mich in der gemeinsamen Arbeit jetzt verblüfft: Hans hat ein starkes dramaturgisches Konzept, bevor die Proben überhaupt beginnen.
VAN MANEN: Das war in diesem Fall auch nötig. Du hast mich um ein Solo gebeten, dafür muss man ein Szenario haben. Es geht um einen Choreografen, der über seine Arbeit nachdenkt, sie auch tanzt. Ich benutze drei Soli von Martin, zwei für Männer und eines für Frauen – dafür besetze ich zusätzlich einen Mann und zwei Frauen. Aber alles spielt sich in seinen Gedanken ab.
K.WEST: Also ein Porträt von Martin Schläpfer?
VAN MANEN: Porträt finde ich ein sehr gutes Wort.
SCHLÄPFER: Aber auch von Dir!
VAN MANEN: Aber nicht autobiografisch. Ich habe gedacht: Er kann so unglaubliche Solos kreieren, er weiß, welche Verträge er mit seinen Tänzern zu erfüllen hat. Aber er ist auch so sozial, dass er seine fast fünfzig Tänzer alle tanzen lässt. In den meisten Kompanien ist die Hälfte nur Ersatz – ein furchtbares Wort. Im Krieg musste meine Mutter Getreidekaffee nehmen, das war der Ersatz …
K.WEST: Wie persönlich wird dieses Porträt, kommen Sie an Grenzen?
SCHLÄPFER: Bis jetzt nicht.
VAN MANEN: Er gibt alles preis! Ich arbeite nur mit Tänzern, die das Risiko nicht scheuen.
K.WEST: 2012 haben Sie bereits in dieser Konstellation zusammengearbeitet: Sie, Herr Schläpfer, haben den männlichen Part in van Manens Choreografie »The Old Man and Me« getanzt.
SCHLÄPFER: Dieses Duo hat Hans für zwei fantastische Tänzer vom NDT gemacht, Sabine Kupferberg und Gérard Lemaitre …
VAN MANEN: Zwei meiner Musen.
SCHLÄPFER: Das war eine Hürde für mich, denn viele Leute hatten das Stück da gesehen und da gibt es einen Memory-Call. Jetzt arbeitet er direkt mit mir und es ist für ihn ganz klar: Ich bin ein Choreograf. Deswegen zitiert er aus meinen Mahler- und Schubert-Choreografien. Dazwischen nimmt er Musik von Manuel Blasco de Nebra, spanischer Barock. Das sind extreme Brüche, fast schon schizoid.
VAN MANEN: De Nebra wird gerade entdeckt. Ich hatte oft das Glück in meinem Leben, Musik zu finden, die gerade entdeckt wurde. Das ist Zufall – wie alles im Leben. Auch ob ich schöne Schritte finde – Zufall.
K.WEST: Aber als Choreograf überlassen Sie doch nichts dem Zufall.
VAN MANEN: Ich meine damit nicht, dass ich mit Würfeln arbeite. Amerikaner arbeiten mit Würfeln und werden damit berühmt. Ich arbeite.
SCHLÄPFER: Zufall könnte auch heißen: Man öffnet die Kanäle. Dann kann die Intuition, der Instinkt etwas aufnehmen.
K.WEST: Tanzen Sie im Ballettsaal noch vor?
VAN MANEN: Vor zehn Jahren fing es an, schwierig zu werden. Man lernt natürlich, die Bewegungen ganz vorsichtig und minimal zu machen. Und die hohen Beine im Ballett kann ich sowieso nicht mehr sehen. Obwohl, das ist nicht ganz wahr. Denn Martin macht das in seinen Choreografien recht gut mit den hohen Beinen. Die stehle ich wahrscheinlich auch von ihm.
K.WEST: Haben Sie auch etwas gelernt von Martin Schläpfer?
VAN MANEN: Ich hoffe, dass ich immer lerne. Es gibt zum Beispiel Stücke, mit denen ich früher nichts anzufangen wusste und von denen ich heute denke: fantastisch. Aber was habe ich in der Zwischenzeit gelernt? Ich weiß es nicht. Ich bin sehr beeinflussbar. Leute, die sich nicht beeinflussen lassen, begreife ich nicht. Manche sagen: Dann bin ich nicht mehr ich selbst. Ich weiß überhaupt nicht, was das ist. Bei der Zusammenarbeit jetzt hat mich der Mensch Martin Schläpfer sehr interessiert: Wie alt ist er, wie ist er als Direktor, was will er eigentlich? Das versuchen wir zu begreifen.
SCHLÄPFER: Das Schöne am Tanzen ist für mich auch: Ich mag mich selbst lieber. Ich will kein ewig tanzender Chef sein, aber jetzt bekomme ich noch einmal eine Gratis-Renovation von Hans, kurz bevor es endgültig schwierig wird. Ich bin leichter, nicht nur gewichtsmäßig, auch emotional.
VAN MANEN: Aber wenn es noch viele Interviews gibt, frage ich mich: Wie erfolgreich muss es denn werden?
Premiere des Ballett-Abends »b.21« am 17. Oktober 2014 in der Rheinoper; weitere Aufführungen in Düsseldorf: 19., 25. und 31. Oktober 2014.