Immer wieder wurden in letzter Zeit Veranstaltungen, gar Festivals aufgrund politischer Erwägungen verschoben oder abgesagt. Die Internationalen Kurzfilmtage in Oberhausen werden 70 – und starten am 1. Mai mit einer Tagung zum Thema »Kultur und Öffentlichkeit«. Ein Gespräch mit Festivaldirektor Lars Henrik Gass.
kultur.west: Herr Gass, was war der Anlass, diese Tagung zu organisieren?
GASS: Mein Eindruck ist, dass die Formate und Institutionen im Kulturbereich, die wir in der westlichen Welt, insbesondere aber nach dem Nationalsozialismus über Jahrzehnte entwickelt und gepflegt haben, in eine schwere Krise geraten sind. Wir sanieren Opernhäuser für eine Milliarde Euro, die zu einer Zeit voraussichtlich fertig gestellt werden, wenn von der Gesellschaft und den Städten, für die sie entstehen, nicht mehr viel übrig sein wird. Das gilt auch für Filmfestivals, die wie die documenta von einem universalistischen Gedanken getragen sind, der im Zuge identitätspolitischer Kämpfe unter erheblichen Legitimationsdruck geraten ist.
kultur.west: Was hat sich verändert?
GASS: Wir haben noch gar nicht verstanden, dass wir seit 2020 in einer anderen Epoche leben. Eigentlich stehen wir bereits vor der Frage, ob jede Gruppe oder jeder Anspruch auf Teilhabe nur sein eigenes Forum benötigt. Man hatte den Kurzfilmtagen in den 50ern das Motto »Weg zum Nachbarn« gegeben; heute bezeichnete »Weg vom Nachbarn« die Situation wohl treffender. Der Kunsthistoriker Harald Kimpel hat jüngst die Frage aufgeworfen, ob wir Formate wie die documenta nicht eigentlich in Würde zu Grabe tragen müssten.
kultur.west: Ihre Tagung trägt den Titel »Sehnsucht nach Widerspruchsfreiheit« – worum soll es gehen?
GASS: Die Tagung, aber auch die Serie von Podien, die sich als in den Tagen danach anschließt, war unter dem Eindruck der Geschehnisse seit dem 7. Oktober 2023, den Angriffen durch die Hamas in Israel, entstanden. Einige denken noch, dass es sich hier um die Etappe eines Konflikts im Nahen Osten handele. Aus meiner Sicht geht es hier um die Frage, ob das zivilisatorische Projekt der Aufklärung nun endgültig scheitert und ob das alles gesellschaftstheoretisch noch verstanden werden kann.
kultur.west: Im Herbst 2023 hatte es einen Vorfall in Bezug auf Sie selbst gegeben…
GASS: Erinnerungskultur, Bildung, Kultur haben uns vor dem Schlimmsten nicht bewahrt. Seit November sind wir in Oberhausen mit einer Kampagne konfrontiert, weil wir nach dem 7. Oktober zu einer Demonstration Pro Israel in Berlin aufgerufen und antisemitische Straftaten dort verurteilt haben. Der Charakter dieser Kampagne nährt Affektökonomien, irrationales Denken und Handeln, Entsoldidarisierung, Dissoziation, Distanzierung, Regression in einem Maße, wie ich das im Kulturbereich noch nicht erlebt habe, so dass die Frage erlaubt sein muss, ob die Annahme, dass Kultur gesellschaftliche Aushandlungsprozesse und Verständigung ermögliche, noch zutrifft. Ich denke, dass der Kultur-, auch Hochschulbetrieb eher im Mittelpunkt einer horriblen Militarisierung und Ideologisierung des Denkens und Fühlens stehen. Sagen wir es in einfacher Sprache: Wir haben versagt. Was jetzt?
kultur.west: Wonach haben Sie das Teilnehmerfeld zusammengestellt?
GASS: Wir wollten ein möglichst breites Bild herstellen aus Bereichen der Kultur: Bildende Kunst, Film, Literatur, Theater. So auch bei den Gästen: Bazon Brock hat das triste Konzept der vergangenen documenta bereits früh benannt. Andreas Hoffmann, der documenta-Geschäftsführer, soll nun dafür sorgen, dass sie aus der Krise kommt. Die Schriftstellerin Ronya Othmann wurde zuletzt selbst angegriffen und ausgeladen, weil Leuten ihre Position zu Israel nicht gefällt.
kultur.west: Hinter dem Titel der Tagung ist eine 1 gesetzt – ist eine Fortsetzung geplant?
GASS: Ja, die Podien zur Frage »Wozu Festivals?« sind »Öffentlichkeit und Kultur 2«. Dort diskutieren Filmkritiker von Cahiers du cinéma oder FAZ, aber auch Filmkuratoren wie Marco Müller und Literaturwissenschaftler wie Moritz Baßler über Universalismus, Politisierung des Kulturbetriebs und Legitimität von Festivals.
Das Tagungsprogramm ist auf kurzfilmtage.de zu finden.