Lars Henrik Gass ist seit 1997 Leiter der Internationalen Kurzfilmtage Oberhausen. Zuvor war er Geschäftsführer des Europäischen Dokumentarfilm Instituts in Mülheim an der Ruhr. Zudem veröffentlicht er regelmäßig Texte zu Film und filmpolitischen Themen in Tageszeitungen und Magazinen. Als Herausgeber oder Mitherausgeber ist er für mehrere Bücher verantwortlich, u.a. über Hellmuth Costard und das Oberhausener Manifest.
»Vielen, auch mir, war klar, dass uns die Folgen der Pandemie und des anhaltenden Kriegs in der Ukraine verzögert einholen würden, nicht als Schock, sondern als Depravation, Verteilungskampf, Stagnation, endlos und zermürbend. Die ersten Monate der Pandemie waren für viele von uns schwierig, aber erlaubten, Konventionen zu überdenken, nicht weiter wie gehabt zu machen. Wir schauten zum Himmel und vermissten die Flugzeuge nicht, vermissten das Reisen nicht, besannen uns auf den Ort, wo wir waren, was wir konnten. Die Unterbrechung hatte glückliche Momente, weil das Verhältnis zwischen Gesellschaft, Kultur und Umwelt in neuem Licht erschien. Viele von uns konnten mit neuen technologischen Möglichkeiten ein neues Publikum erreichen. Wir konnten feststellen, dass es auch anders geht. Das war auf Dauer nicht durchzuhalten, physisch wie finanziell. Gleichwohl war die Ernüchterung groß, wie schnell man zur Tagesordnung überging, in der Kultur, aber auch in anderen Bereichen in einem Land, in dem kaum ein Zug pünktlich fährt, in dem immer mehr Menschen in Armut leben, in dem Braunkohle zur Stromgewinnung verbrannt wird, Kerosin nach wie vor von Steuern befreit ist, Fracking-Gas aus den USA bezogen wird, immer mehr Bäume verschwinden und immer weniger Leute zur Wahl gehen, die sie nicht haben. Die Nachfrage im Kulturbereich hat erheblich nachgelassen, während die Erstellungskosten erheblich gestiegen sind. Dennoch hat kein Nachdenken eingesetzt über Rolle und Finanzierung von Kultur. Von Mandatsträgern hört man dieselben auswendig gelernten Reden wie zuvor. Mittlerweile haben wir in unserem Bundesland eine für Kultur zuständige Ministerin, die mit Kultur wohl erstmals im Zusammenhang mit ihrem Amt in Berührung kam und von Kultur lediglich erwartet, dass sie ankommt. Das Problem, das Politik hervorgebracht hat, wird an Kultur weitergereicht, wo es durch geringere Ansprüche und mehr Marketing gelöst werden soll, Betriebsamkeit. Dabei müsste, nur zum Beispiel, endlich ein strukturierter Prozess zur Rettung der kulturellen Praxis Kino eingeleitet werden zur langfristigen Sicherung von Kulturbauten, des Bestands, ebenso zur Entwicklung von architektonischen und städteplanerischen Konzepten, die etwa auch neuartige Verbindungen verschiedener Funktionseinheiten vorsehen, von Arbeit, Bildung, Gewerbe, Kunst, Wohnen. Das Kino der Zukunft müsste, gleichsam am Nullpunkt des Kinos, die Frage beantworten, wie Kultur im öffentlichen Raum künftig überhaupt präsentiert und rezipiert werden könnte, wie wir leben wollen. Schließlich müsste die soziale Frage des Zugangs zu Filmgeschichte und Filmkultur neu gestellt werden: im Kino, in der schulischen Bildung und hinsichtlich des Auftrags des öffentlich-rechtlichen Rundfunks. Veränderung ist möglich, wenn auch unsinnig. Niemand glaubt mehr daran. Veränderung zu fordern, muss daher idiotisch erscheinen. Und so geschieht sie nicht. Alles erstarrt in Angst.«
Aufgezeichnet von Sascha Westphal