Wir veröffentlichen an diesem Ort selten Nachrufe. Er soll Künstlern vorbehalten bleiben, die eine außergewöhnliche, herausragende Bedeutung und Verbindung mit diesem Land haben, das sich schwer tut mit einer sich selbst stiftenden Identität. Pina Bausch, Bernd und Hilla Becher, Gerard Mortier, Christoph Schlingensief waren es (uns) wert. Diese Reihe setzt den Maßstab. Raimund Hoghe soll dazu gehören, er muss es, obgleich er vielleicht am wenigsten, wenn zwar in Wuppertal geboren und in Düsseldorf lebend, Verwurzelung in der Heimaterde zuließ. Oder doch nur in einem tieferen, womöglich sich selbst gar nicht so sehr eingestehenden Sinn.
Der Dramaturg, Autor, Tänzer und Choreograph, der am 14. Mai 2021 mit 72 Jahren gestorben ist, war eine Ausnahme-Erscheinung – im radikalen Verständnis des Begriffs und auf eine Weise, die manches von dem in Frage stellte, was sich im Idealbild vom Tanzkünstler kristallisiert. Seine mehr als 30 Produktionen sind für das Tanztheater das, was W. G. Sebald für die deutschsprachige Literatur und Rainer Werner Fassbinder für den deutschen Film sind: Arbeiten, die den Preis der Liebe nennen und bekennen, Erinnerungsräume öffnen, »Schmerzspuren« (Sebald) nachgehen, die die deutsche Geschichte uns eingeschrieben hat, auch in die Körper, und die auf der »Trauerlaufbahn« ihre Kreise ziehen, wobei es auf Hoghes Bühne das Carré war.
Das große Lösungsmittel: die Musik
Das schritt es ab. Er ging allein – ja, auch einsam – die Strecken des Bühnengevierts entlang, ging »Meinwärts« und darüber hinaus, immer wieder, mit Langmut, bedächtig, beharrlich und unerbittlich. Es war ein Ausschreiten als Maß-Nehmen, als Auf-sich-Nehmen, ein mit Stolz und Mut und in ästhetischer Kunststrenge absolvierter Weg, der die eigene Biografie, den »Buckel« und das Begehren nicht ausließ, aber sie in einen höheren Zusammenhang auflöste. Fast möchte ich sagen: sie erlöste. Die Musik war das eine große Lösemittel, beinahe Allheilmittel, die petite phrase, wie es bei Proust heißt, oder die erhabene Arie der Grand Opéra, so oder so, eine unendliche Sehnsuchtsmelodie, wie etwa der Gesang des jüdischen Tenors Joseph Schmidt, dem er einen Abend widmete. Die Begegnung der Körper – was auch sonst im Tanz! – war das andere. Und das eine hielt auf intime Weise Hochzeit mit dem anderen.
Die Erfahrung von Ausschluss stand am Anfang von Hoghes Leben, das 1949 in das Werden und Blühen der Bundesrepublik hineinwuchs. Sie machte ihn fühlend, fähig und reif für die Begegnung mit Menschen, über die er in der Zeit wunderbar behutsame Porträts schrieb, und für die zehn Jahre an Pina Bauschs Wuppertaler Tanztheater mit ihrer intellektuellen Leistung aus vollem Herzen. Aber Hoghe musste sich zum Künstler sui generis befreien, zunächst wohl auch gegenüber sich selbst.
Drei Jahrzehnte zeigte er – hochempathisch und mit minimalem Aufwand – die Wunde. Nicht selbstreferentiell und ichsüchtig, sondern die Wunde, die zur Metapher wird am Körper einer Nation und politischen Welt, ihrer Vergessenen, Verfolgten, Geschmähten, Ausgemusterten und Ausgemerzten. Er fand seine Stoffe im Archiv des Individuellen; und er nahm Klassiker des Balletts, Swan Lake, Boléro, La Valse, L’Après-midi d’un faune, und wusch sie rein von ihren Ablagerungen.
In Frankreich fühlte er sich zuhause, nicht etwa, weil er dort zum Officier des Ordre des Arts et des Lettres ernannt wurde und Ehrungen erhielt, die sein Werk früher als in Deutschland würdigten, wo ihm 2008 der Produzentenpreis und 2020 der Deutsche Tanzpreis verliehen wurden. Es war jenes Frankreich, in das sich Heinrich Heine, Marlene Dietrich, Romy Schneider und Ingrid Caven eingebürgert hatten. Ein Fluchtpunkt. Die Alternative.
Raimund Hoghe hielt auf sich. Er besaß Akkuratesse und Noblesse. Es schien, als sei ein Feuerkreis um ihn. Während der Weihnachtsfeiertage zog er gern in ein Hotel. Das Unverbindliche und Entlastende dort taten ihm wohl. Rituale des Anderen.