Ein Ensemble im Bus. Die einen gehen noch mal ihren Text durch, andere entspannen mit Kopfhörern auf den Ohren. Das ist das Bild, das einem sofort in den Kopf fliegt, wenn es um Landestheater geht. Anspruchsvolles Theater in Städte und Dörfer zu schicken, die kein eigenes Ensemble haben – das ist die Aufgabe dieser Reisebühnen. Allerdings stehen sie gerade vor Problemen. Denn das Land will die Tariferhöhungen nicht übernehmen.
Eine Woche lang wurde gerade gefeiert mit Festakt, Theater-Bingo und einer Uraufführung. Gleichzeitig bangte das Rheinische Landestheater Neuss eine ganze Weile um seine Existenz. Intendantin Marie Johannsen hatte befürchtet, schon im Dezember den Spielbetrieb einstellen zu müssen. Ein Loch im Haushalt sei entstanden, weil die NRW-Landesregierung – die alle Landesbühnen zur Hälfte mitfinanziert – kein zusätzliches Geld für die Tarifsteigerungen geben will. Das sind in Neuss in diesem Jahr 360.000 Euro. Nach dem Erscheinen unseres Print-Artikels Ende September 2025 kam dann allerdings die Nachricht, dass Kulturministerin Ina Brandes das Rheinische Landestheater nun mit 340.000 Euro zusätzlich unterstützt. Damit ist eine Zahlungsunfähigkeit der Bühne in der laufenden Spielzeit abgewendet.
Weiterhin betroffen könnten aber die anderen Landesbühnen in Detmold, Castrop-Rauxel und Dinslaken sein, wenn auch nicht ganz so direkt in der Existenz bedroht. Ihnen ginge es – wenn sich nichts ändert – erst in ein bis zwei Jahren an den Kragen.
Der Gastspielmarkt ist umkämpft. Denn natürlich gibt es auch Tourneebühnen, die kommerziell arbeiten. Die meisten Städte ohne eigenes Schauspiel fahren einen Mix aus Produktionen der Landesbühnen und anderen Stücken vom Gastspieltheater-Markt. Fast überall werden die Kulturetats nicht größer, deshalb gibt es viel Druck in diesem mobilen Theatergeschäft.
Idee der Teilhabe
Die NRW-Landesbühnen können sich da aktuell gut behaupten. Mirko Schombart – Intendant der Burghofbühne Dinslaken – erzählt von 250 Vorstellungen, die sein winziges Ensemble in einer Saison spielt. Und auch Marie Johannsen hat in ihrem ersten Jahr in Neuss die zuvor suboptimalen Besuchszahlen deutlich erhöht. Aber damit kann sie keine 360.000 Euro zusätzlichen Gewinn erzielen. Denn die Idee der Landestheater ist nicht zuletzt die Teilhabe. Sie sollen auch günstige Kulturangebote anbieten und können deshalb die Eintrittspreise nicht zu hoch ansetzen. Außerdem sollen sie die Vermittlungsangebote, Workshops, Einführungen, Klassenbesuche intensivieren. Und das nicht nur in ihren Stammhäusern, sondern auch an den Gastspielorten. Das alles kostet. Und es bedeutet, noch mehr reisen.
Die Mobilität stellt die Landesbühnen vor besondere Herausforderungen: Bühnenbilder müssen so gestaltet werden, dass sie problemlos in ein paar Stunden auf- und wieder abgebaut werden können. Natürlich sollen sie trotzdem gut oder sogar spektakulär aussehen, das Publikum ist anspruchsvoll. Außerdem wird es immer komplizierter, die Arbeitszeiten zu planen. Es gibt gerade neue Verträge, die freie Tage und Pausenzeiten für die Ensembles verbessert haben. Das alles muss organisiert werden. Wenn nachmittags eine längere Busreise zu einem Gastspielort ansteht, ist oft vormittags keine Probe mehr möglich. Das bedeutet, entweder auf Proben zu verzichten, was dem künstlerischen Anspruch im Wege stehen könnte. Oder die Produktionszeiten zu verlängern, also für eine Premiere acht, statt sechs Wochen anzusetzen. Das wiederum würde bedeuten, dass man die Gagen für die Regieteams erhöhen müsste. Und dafür ist gerade wie beschrieben überhaupt kein Geld da.
Im Landestheater Detmold fehlen in dieser Saison gerade sogar 1,3 Millionen durch die nicht aufgefangenen Tariferhöhungen. Es ist mit Oper, Ballett, Schauspiel und Orchester das größte Landestheater. Durch Sonderzuwendungen – auch hier gibt es ein Theaterjubiläum – kann noch einiges kompensiert werden. Aber nicht mehr lange.
Das NRW-Kulturministerium verweist in einer schriftlichen Mitteilung darauf, dass die angespannte Haushaltslage keine Erhöhung der Mittel ermöglicht. Außerdem habe man Neuss schon 128.000 Euro extra gegeben. Damit hat das Rheinische Landestheater laut Intendantin frühere, nicht vollständig übernommene Tariferhöhungen abgepuffert. Die Stadt Neuss steht hinter dem Landestheater und hat in einem Brandbrief auf die Situation hingewiesen, sieht sich allerdings selbst auch nicht in der Lage, mehr Geld zu geben.

Cornel Hüsch, Rechtsanwalt und Vorsitzender des RLT-Trägervereins, sagt: »Es war über Jahre Konsens, dass unumgängliche Kostensteigerungen, erst recht, wenn sie auf Grund von Gesetz oder Tarifvertrag zu tragen sind, übernommen werden. Wenn das nicht mehr so ist, wird das eigene Ziel der Verbesserungen der Situation gerade der unteren Lohngruppen zunichte gemacht. Damit rettet man nicht einen Haushalt, sondern zerstört eine gewachsene Kulturlandschaft und verrät die eigenen politischen Ziele.«
Die Landesregierung hat nun eine Studie in Auftrag gegeben. Das macht man so in der Politik, weil sich schon seit einiger Zeit in den Ministerien und vielen Kulturämtern niemand mehr die Expertise zutraut, die Lage selbst einschätzen zu können. Solche Studien sind teuer, mit dem Geld könnte man schon viele aktuelle Probleme lösen. Aber man braucht sie als Argumentationsgrundlage, und in den meisten Fällen kommt am Ende das heraus, was alle schon vorher gewusst haben oder hätten wissen können.
Mirko Schombert aus Dinslaken sieht der Durchleuchtung seiner Burghofbühne auf Sparmöglichkeiten gelassen entgegen: »Ich freu mich eigentlich darauf, dass wir es schriftlich bestätigt bekommen, wie effizient wir immer schon arbeiten.« Aufgrund der Studie soll dann 2026 entschieden werden, ob das Land seine Zuschüsse erhöht. Und ob die Landesbühnen überhaupt in ihrer derzeitigen Form weiterarbeiten können. Für Neuss könnte es da allerdings schon zu spät sein.
»Die Prinzipalin« als die Urahnin aller Landestheater
Künstlerisch stehen die Landestheater gerade ausgezeichnet da und haben auch in dieser Spielzeit einige Vorzeigeprojekte. Neuss hat zum 100-jährigen Jubiläum ein Stück beim viel gespielten Dramatiker John von Düffel in Auftrag gegeben. »Die Prinzipalin« erzählt von der Urahnin aller Landestheater und Tourneebühnen, der »Neuberin«: Caroline Neuber hat 1727 ein Wandertheater gegründet und suchte zwischen dem damals populären »Hanswursttheater« und der Oper nach einem neuen deutschsprachigen Schauspiel. Sie übersetzte französische Stücke, der junge Gotthold Ephraim Lessing schrieb für sie, die »Neuberin« wurde zu einer Berühmtheit und Hofschauspielerin bei der Zarin in St. Petersburg.
Aber Erfolg und Ruhm schützten sie nicht vor Abstürzen. Die Zarin starb, sie verlor ihre Privilegien, in Deutschland hatte sie immer wieder finanzielle Probleme und musste 1750 ihre Kompagnie auflösen. Besser kann ein Stück gar nicht zur aktuellen Situation in Neuss passen. Hergard Engert, die seit über 20 Jahren zum Ensemble des Rheinischen Landestheater gehört, spielt die »Neuberin«.
Auch das Landestheater Detmold hat mit Kirsten Uttendorf seit einem Jahr eine neue Intendantin. Sie hat die Jubiläumsspielzeit – das traditionsreiche Hoftheater ist schon 200 Jahre alt – rund um das Thema des gesellschaftlichen Zusammenhalts angelegt. Das tun derzeit aus nachvollziehbaren Gründen viele Theater. Doch städtische Bühnen haben oft das Problem, dass sie in der eigenen Bubble bleiben, während die Landestheater durch ihre Reisen mehr mitkriegen, was die Menschen in kleineren Orten bewegt. Allein Detmold ist in dieser Spielzeit in 70 verschiedenen Gastspielstätten unterwegs.
Im Spielplan gibt es einige höchst interessante Stücke, zum Beispiel die Oper »The Wreckers« der Komponistin Ethel Smyth. Damit beteiligt sich Detmold nicht nur an der Wiederentdeckung von Musiktheaterstücken, die Frauen geschrieben haben. Es hat sich mit der aufwühlenden Oper auch einen besonders reizvollen Stoff ausgesucht. Da geht es um ein Klippendorf, dessen Bewohner davon leben, gestrandete Schiffe auszuplündern. Als sie herausfinden, dass jemand die Schiffe mit Leuchtfeuern vor der Gefahr warnt, wollen sie ihn ermorden.
Stadtgeschichte mit Sinalco
Detmold hat aber auch eine Uraufführung im Programm, die eine spannende Seite der Stadtgeschichte spiegelt. »Das Glück ist eine Orange« führt in die 60er Jahre und in die Hochphase des Limonadenherstellers Sinalco. Heute werden die Getränke aus Duisburg vertrieben, doch 1902 wurde Sinalco von einem Detmolder Kaufmann und einem Naturheilkundler gegründet, nach dem die Limo zunächst »Bilz-Brause« hieß. Musical-Experte Peter Lund hat das Stück für Detmold geschrieben.
Das Westfälische Landestheater in Castrop-Rauxel hat sich sehr breit aufgestellt. Neben aktuellen politisch-dokumentarischen Stücken, die der Dramaturg Christian Scholze schreibt und inszeniert, gibt es Krimis, Rockshows und viel Jugendtheater. Nicht wenige Stücke sind über Jahre hinweg im Repertoire, wie das knackig gekürzte Musical »Cabaret«, das in Berlin zur Zeit des erstarkenden Nationalsozialismus spielt und beängstigend in unsere Zeit passt. Oder auch Ralf Ebelings umwerfend lustige Inszenierung von Ray Cooneys abgedrehter Komödie »Außer Kontrolle«.
Die Burghofbühne Dinslaken wiederum zeigt viele aktuelle Stücke und Romanbearbeitungen, die mit dem Alltagsleben zu tun haben und Geschichten erzählen, die nah dran sind am Publikum. Intendant Mirko Schombert hat Mariana Lekys Roman »Was man von hier aus sehen kann« auf die Bühne gebracht. In einem kleinen Dorf trifft sich eine Gesellschaft, in der jeder und jede seine Macken, Spleens und Verrücktheiten hat. Dennoch bilden sie eine Gemeinschaft, was das enorm dichte Zusammenspiel des Ensembles hervorragend ausdrückt. Dramatik kommt in die Sache, weil ein Traum die Gewissheit nährt, dass innerhalb von 24 Stunden jemand sterben wird. Plötzlich verdichtet sich alles. Soll man schnell noch Pläne umsetzen, die zum Teil schon seit Jahren in einem gären? Den Partner verlassen, noch schnell Sex haben? Oder ist das alles Quatsch. Am Ende steht der Satz: »Es sind nicht mehr alle da. Aber die Welt gibt es noch.«
Die Landestheater in NRW leisten viel und kosten verhältnismäßig wenig. Es ist natürlich die Frage, was man sich angesichts der düsteren Finanzprognosen noch leisten kann. Auf die Landestheater zu verzichten, würde allerdings bedeuten, eine Grundlage der Kulturpolitik in den vergangenen Jahrzehnten aufzugeben. Nämlich den Anspruch, dass auch kleinere Orte das Recht auf ein vielfältiges Theaterangebot haben und es auch die Aufgabe des Landes ist, das zu ermöglichen.
AUSGEWÄHLTE AUFFÜHRUNGEN DER LANDESTHEATER IM OKTOBER:
»DIE PRINZIPALIN«, RHEINISCHES LANDESTHEATER NEUSS, 2., 10. UND
19. OKTOBER;
»DAS GLÜCK IST EINE ORANGE«, LANDESTHEATER DETMOLD, 24., 29. OKTOBER
UND 2. NOVEMBER;
»CABARET«, WESTFÄLISCHES LANDESTHEATER, 9. OKTOBER IN RHEINE;
»MAN MUSS FÜR WERTE EINTRETEN. DER MORD AN WALTER LÜBCKE«, WLT,
29. OKTOBER IBBENBÜREN;
»WAS MAN VON HIER AUS SEHEN KANN«, BURGHOFBÜHNE, 19. OKTOBER
BRILON, 3. NOVEMBER DORSTEN






