In Niedersfeld bei Winterberg leben 1300 Menschen – über 500 von ihnen sind Mitglied der Schützenbruderschaft St. Hubertus. Arne Piepke ist einer von ihnen. Für den Foto-Essay »Glaube, Sitte, Heimat« hat der preisgekrönte Dokumentarfotograf aus Dortmund die jahrhundertealte Schützentradition erkundet – und damit auch seine eigene Identität.
kultur.west: Welche Bilder sind in Ihrem Kopf, wenn Sie an das Sauerland denken?
PIEPKE: Ich sehe die Berge, die Natur. Die bringt mich auch immer wieder dorthin zurück. Meiner Mutter gehört ein kleines Waldstück mit einer rustikalen Hütte, das ist einer meiner Lieblingsorte. Ein Rückzugsort. Als zweites fällt mir der Tourismus ein, der in Winterberg schon gekippt ist. Im Winter vermeide ich die Stadt inzwischen, so überlaufen ist sie. Dabei habe ich vor meinem Foto-Studium selbst auf Skihütten gearbeitet.
kultur.west: Die Schönheit der Natur, die Schattenseiten des Ski-Tourismus – beides sind ergiebige Themen für Foto-Essays. Sie haben sich entschieden, Schützenfeste im Sauerland zu fotografieren. Warum?
PIEPKE: Meine Geschichte mit Schützenvereinen ist komplex. Ich war wohl im Kinderwagen zum ersten Mal auf einem Schützenfest, aber hatte mich mit ihnen nie auseinandergesetzt, sie waren einfach da. Als Jugendlicher fand ich die Tradition ein bisschen weird. Erst im Studium kamen die Fragen: Warum gibt es das heute noch? Was ist der Kern? Kann man die Tradition zeitgemäß umwandeln, sollte man? Ich glaube, mich interessiert das Thema wegen der Suche nach der eigenen Identität, auch nach der Zugehörigkeit zwischen Dorf und Großstadt. Vielleicht bin ich auch ein bisschen neidisch: Schützen haben etwas, mit dem sie sich sehr identifizieren. Wo ist meine Gemeinschaft? Ich sehe, wie prägend es ist, wenn ein ganzes Dorf zusammenkommt. Das finde ich superschön. Ich sehe aber auch Kritikwürdiges.
kultur.west: Was sehen Sie kritisch?
PIEPKE: Ein Großteil der Vereine nimmt zum Beispiel keine Frauen auf. Ich habe im Hochsauerlandkreis nur einen Verein gefunden, bei dem Frauen auch beim Vogelschießen mitmachen – und selbst da nicht gemeinsam mit den Männern, sondern separat. Es gibt erzkonservative Vereine, in denen Frauen nicht mal anwesend sein dürfen, wenn der Vogel hochgezogen wird. Das ist lächerlich und nicht mehr zeitgemäß. Würde sich der Kern der Veranstaltung verändern, wenn man Frauen zuließe? Die ursprüngliche Funktion der Schützen als Bürgerwehr hat sich ja eh überholt.
kultur.west: Wie sind Sie bei der Arbeit an der Serie vorgegangen?
PIEPKE: Viele Arbeiten über Schützenfeste sind sehr klischeehaft. Ich wollte sie fotografieren wie eine Theaterinszenierung, denn die Leute nehmen ja Rollen ein. Für drei Tage sind sie Tambourmajor oder sitzen am Königstisch. Mich interessiert es, wenn Menschen aus ihrem Alltag bewusst ausbrechen. Dabei ist mein fotografischer Blick vor allem ein fragender. Fotografie wirkt zwar sehr direkt, ist aber unglaublich offen. Sie ist meist leicht lesbar, aber eigentlich bleiben immer mehr Fragen als Antworten. Wenn ein Foto überrascht und zu neuen Gedanken führt, ist für mich viel erreicht. Ich habe nicht den Anspruch, die Fragen auch zu beantworten.
kultur.west: Wo ist die Serie entstanden?
PIEPKE: Über mehrere Jahre an verschiedenen Orten im Sauerland. Oft kannte ich jemanden persönlich. Ganz am Ende habe ich in einer Schützenhalle einen Vortrag organisiert, um das Projekt vorzustellen, meine Fragen in den Raum zu stellen und den Anwesenden die Chance zu geben, darauf zu reagieren. Ich war nervös, aber es lief super. Die Bilder kamen sehr unterschiedlich an. Einige fanden die Belichtung seltsam, andere wiederum fanden es cool, dass die Bilder mal anders aussehen. Im Laufe der Arbeit bin ich sogar in den Niedersfelder Schützenverein eingetreten. Ich wollte den Menschen, die ich fotografiere, signalisieren: Ich gucke nicht nur von außen drauf. Ich sehe das Positive.
kultur.west: Ihre großen Serien sind alle in Deutschland entstanden. Wie ist Ihr Selbstverständnis als Dokumentarfotograf?
PIEPKE: Als junger Fotograf war ich viel im Ausland unterwegs, zum Beispiel in Georgien, und merkte dann: Das interessiert dich vor allem, weil es für dich exotisch ist. Aber damit bleibst du an der Oberfläche. Wieso suchst du nicht nach unerzählten Geschichten in Deutschland? So gehen wir auch im DOCKS Collective vor, das ich mit Kollegen geründet habe. Wir arbeiten essayistisch und wollen einen ehrlichen Umgang mit den Personen und Regionen, in denen wir arbeiten. Zum Beispiel haben wir zu fünft nach der Flut im Ahrtal fotografiert. Wir waren die ersten zwei Wochen komplett vor Ort und dann regelmäßig immer wieder bis zum ersten Jahrestag.
kultur.west: Gab es inzwischen auch weitere Sauerland-Projekte?
PIEPKE: Im Januar habe ich für die Financial Times das Weißwurstfrühstück mit Friedrich Merz und Markus Söder in der Schützenhalle Brilon fotografiert. So wie Merz, bin auch ich dort geboren. Über das Sauerland hinaus interessiert mich aber das Ländliche allgemein. Das Landleben in Brandenburg ist ganz anders als das im Sauerland. Diese Unterschiede herauszuarbeiten, interessiert mich. Tatsächlich kommen meine Deutschland-Bilder im Ausland oft besser an. Ich habe sie in New York gezeigt, ein paar Mal in Frankreich ausgestellt, in der Washington Post veröffentlichen können.
kultur.west: Was ist Ihr nächstes Projekt?
PIEPKE: Mein nächstes Ziel ist es, Deutschland zu umrunden und die Grenzregionen zu erkunden – jetzt, wo Grenzen offenbar ein so wichtiges Thema sind. Was genau ist da schützenswert? Und wie sind die Menschen, die dort leben? Auch hier würde ich gerne mit offenen Fragen reingehen.

Zur Person
Arne Piepke kam 1991 in Brilon zur Welt und studierte Fotodesign an der FH Dortmund. Er arbeitet für internationale Auftraggeber von The Guardian bis GEO und ist Teil des Dortmunder DOCKS Collective, das gemeinsam dokumentarisch fotografiert, ausstellt, publiziert und Fotografie vermittelt. Er hat an Fotografie-Festivals in Frankreich, Portugal, Italien und Dänemark teilgenommen und wurde vielfach ausgezeichnet, zuletzt auf dem spanischen Revela’T Festival. In diesem Jahr gehört er zu den zehn Selectees beim Copenhagen Photo Festival.