An inoffiziellen Titeln mangelte es Thomas Edward Lawrence nicht. »Ungekrönter König der Wüste« oder »Prinz von Mekka« wurde er genannt. Oder einfach: »Lawrence von Arabien«. Das gleichnamige, überwältigende Filmepos David Leans mit Peter O’Toole in der Hauptrolle, 1963 mit sieben Oscars ausgezeichnet, machte den 1888 im walisischen Tremadoc geborenen Sohn einer Gouvernante und eines Adligen einer weltweiten Öffentlichkeit bekannt. Leans Film stilisiert Lawrence zum Helden, der als britischer Agent während des Ersten Weltkriegs den Aufstand der Araber gegen das Osmanische Reich organisierte. Doch schon zu Lebzeiten wurde Lawrence zum Mythos. Der amerikanische Reporter Lowell Thomas, der Lawrence für ein paar Tage in Akaba als »embedded journalist« besucht hatte, vermarktete seine Berichte nach dem Krieg als multimediale Show, bei der die vermeintlichen Großtaten des T. E. Lawrence im Mittelpunkt standen. Lawrence selbst trat nach dem Krieg rasch von der Bühne ab und tauchte nach einem Zwischenspiel im Kolonialministerium als einfacher Soldat unter dem Pseudonym T. E. Shaw in der britischen Luftwaffe unter. In Folge eines Motorradunfalls starb T. E. Lawrence am 19. Mai 1935 in Clouds Hill, knapp drei Monate nach dem Ende seiner Dienstzeit.
Peter Thorau, der an der Universität des Saarlandes als Professor Geschichte des Mittelalters und des Vorderen Orients lehrt, hat sich in seinem im letzten Jahr erschienenen Buch »Lawrence von Arabien« der Kunstfigur T. E. Lawrence vor dem Hintergrund der politischen Geschehnisse seiner Zeit kritisch genähert und die Frage zu klären versucht, welche Rolle(n) Thomas Edward Lawrence im und für den Nahen Osten tatsächlich spielte.
K.WEST: War Thomas Edward Lawrence ein Hochstapler?
THORAU: Dieser Begriff hat einen zu negativen Touch. Lawrence war von sich sehr überzeugt und hat es genossen, im Rampenlicht zu stehen. Dass er ein Hochstapler sei, haben die Araber ihm nach dem Ersten Weltkrieg vorgeworfen. Das ist mir zu hart formuliert.
K.WEST: Aber dass Lawrence viel dafür getan hat, seinem Leben legendenhafte Züge zu verleihen, steht für Sie außer Frage?
THORAU: Kleine Jungen träumen gerne von großen Taten. Lawrence war in dieser Hinsicht keine Ausnahme, vielleicht war seine Phantasie nur etwas ausgeprägter. Denkbar ist, dass Lawrence versucht hat, die Handicaps seiner Herkunft – er ist als unehelicher Sohn zur Welt gekommen – und seiner geringen Körpergröße – er war nur 1,65 Meter groß – zu kompensieren: durch Selbstheroisierung oder durch körperliche Ertüchtigungen, die bis an den Rand der Erschöpfung und sogar darüber hinaus gehen konnten. Auch sein ausgeprägter Leistungswille trägt Züge von Kompensation.
K.WEST: Jüngere Forschungen haben zu zeigen versucht, dass Kolonien nicht zuletzt Orte waren, an denen Europäer mit vergleichsweise geringem Risiko ihre Homosexualität ausleben konnten. Zur Legende des »Lawrence von Arabien« gehören neben Spekulationen über seine sexuellen Neigungen auch solche über eine eventuelle sadomasochistische Veranlagung, die erklären soll, warum der Soldat T. E. Lawrence so mitleidlos agierte.
THORAU: Ich habe manchmal den Eindruck, dass Lawrence asexuell gewesen ist.Aber für seine historische Bedeutung spielt das keine Rolle. Anders verhält es sich mit der eventuell gegebenen sadomasochistischen Veranlagung, die durchaus Einfluss auf die Truppenführung gehabt haben könnte. Britische Offiziere waren schockiert über die Brutalität, mit der die Beduinen ihre türkischen Gefangenen niedermetzelten. Darauf angesprochen, soll Lawrence lakonisch geantwortet haben: »So führen wir hier Krieg«. Überliefert ist auch, dass Frauen Lawrence nach einer Zugsprengung um Gnade anflehten und er sie mit einem Fußtritt beiseite schob. In einem solchen Verhalten lassen sich durchaus sadistische Züge erkennen.
K.WEST: Lawrence ging lange als ungekrönter »König der Wüste« oder als Befreier der Araber von türkischer Herrschaft durch. Welche Rolle spielte er tatsächlich bei dem so genannten Arabischen Aufstand?
THORAU: Zunächst war seine Funktion eine untergeordnete. Sie wurde bedeutender, als er Kontakt zu Faisal, dem Sohn des Scherifen von Mekka, Hussein ibn Ali, aufnahm und dem Kairiner Hauptquartier berichtete. Als Verbindungsoffizier, der britische und beduinische Aktionen aufeinander abstimmte und sich darum kümmerte, dass die Beduinen mit Lebensmitteln und Waffen versorgt wurden, hatte er durchaus Einfluss. Als Militär ist seine Rolle hingegen marginal. Seine Verklärung als Held auf dem Schlachtfeld entbehrt jeglicher Realität. General Edmund Allenby hat später gesagt: »Ich hatte ein Dutzend Kerle, die den Job besser gemacht hätten.« Aber anders als viele Offiziere hat Lawrence es verstanden, gute Berichte zu schreiben, die er teilweise auch zu seinen Gunsten frisierte.
K.WEST: Handelte es sich denn damals tatsächlich um einen arabischen, von den Briten funktionalisierten Aufstand gegen die Türken?
THORAU: Von einem arabischen Aufstand zu sprechen, ist schlichtweg falsch. Ein gebildeter Syrer aus Damaskus wird sich bedanken, wenn plötzlich ein hergelaufener Beduine sagt: »Wir sind die Träger des Arabischen Aufstands, wir befreien euch alle und bringen euch unter unsere Herrschaft.« Genau das aber war das Ziel Hussein ibn Alis. Es gab arabische Kreise, die sich sehr viel mehr Autonomie innerhalb des osmanischen Reiches wünschten, aber keineswegs eine völlige Unabhängigkeit.
K.WEST: Lawrence war sich dieser Problematik bewusst. Warum unterstützte er Hussein in dieser Sache?
THORAU: Lawrence war klar, dass ein Großarabisches Reich eine Illusion bleiben musste. Er wollte aber andererseits unter keinen Umständen, dass die Franzosen in der Region an Einfluss gewannen, und er wollte die Türken zurückdrängen, gegen die sich der Aufstand richtete. Letztendlich ging es ihm wohl auch um einen Freundschaftsdienst für die Söhne des Scherifen. Doch er vertrat immer britische Interessen, auch nach dem Krieg, obwohl er die Lage anders bewertete als die britische Diplomatie.
K.WEST: Das zentrale Dokument für die Mythenbildung ist Lawrence’ als autobiografischer Bericht deklariertes Werk »Die sieben Säulen der Weisheit«, in dem er seine Kriegserlebnisse 1917/18 verarbeitet. Er sei eher ein Schriftsteller als ein Mann der Tat, hat Lawrence einmal gesagt. Hat er selbst die »Sieben Säulen« als fiktionales Werk gesehen?
THORAU: Vielleicht hat er selbst es so gesehen. Dieses Werk besticht durch Landschaftsschilderungen, durch Beschreibungen des tribalen Lebens der Beduinen. Gleichzeitig stellt Lawrence sich selbst in den Mittelpunkt des Geschehens, heroisiert sich und den »Arabischen Aufstand«. Viele historisch belegte Fakten werden ausgelassen, andere verzerrt. Der Fehler war, dass dieses Buch lange Zeit als historische Quelle gelesen worden ist.
K.WEST: Hat Lawrence dieser Lesart, die sein Buch als historisches Dokument nimmt, widersprochen?
THORAU: Als man ihn nach dem Krieg für einen Militärbericht gebeten hat, seine genaue Position bei der Schlacht von Tafila, die er laut den »Sieben Säulen« als Feldherr gelenkt haben will, auf einer Karte einzuzeichnen, hat er geantwortet: »Ich habe den ganzen Tag nur zugesehen.« Aber solche Relativierungen hat er nur sehr vereinzelt vorgenommen.
K.WEST: Der Mythos »Lawrence von Arabien« wäre undenkbar ohne den amerikanischen Journalisten Lowell Thomas, der als »embedded journalist« Bekanntschaft mit Lawrence machte. Ab März 1919 beginnt Lowell Thomas seine Kriegsberichte in Form von multimedialen Shows zu vermarkten. Gaben diese Shows vor, die Kriegsgeschehnisse getreu zu dokumentieren?
THORAU: Lowell Thomas kam eigentlich in den Orient, um über den nahöstlichen Kriegsschauplatz objektiv zu berichten. Er hat aber an Kampfhandlungen nie teilgenommen und Lawrence nur für wenige Tage getroffen. Die von ihm aufgenommenen Fotos sind alle gestellt. Für seine Räuberpistolen über angebliche Heldentaten war Lawrence schon bei seinen Kameraden berüchtigt; diese wird er auch Lowell Thomas zum Besten gegeben haben. Nach Amerika zurückgekehrt, verarbeitete er Filmaufnahmen und Bilder zu einer publikumswirksamen Show.
K.WEST: Wie liefen diese Shows ab?
THORAU: Lowell Thomas ließ zunächst Musik spielen, die das Publikum einstimmen sollte. Dann wurde häufig der Ruf des Muezzin nachgeahmt, die Frau des Journalisten oder eine andere Tänzerin führten einen Schleiertanz auf. So wurde das Publikum in eine fremde, exotische Welt entführt. Dann erzählte Lowell Thomas, gestützt auf Bilder und Filmausschnitte, die Geschichte eines Briten, der die Eingeborenen mobilisiert, mit ihnen lebt und gegen ihren bösen Feind, die Türken, kämpft. Dichtung und Wahrheit lagen sehr nahe beieinander. Wie sehr Bilder lügen können, dessen war sich das Publikum zu dieser Zeit noch nicht in dem Maße bewusst, wie wir es heute sind. Lowell Thomas’ Shows sind wesentlich für das Robin-Hood-Image von Lawrence verantwortlich. Zunächst hieß die Darbietung: »Mit Allenby in Palästina«. Dann verschob sich der Akzent immer mehr auf Lawrence, weil Lowell Thomas merkte, dass dieser beim Publikum besonders gut ankam.
K.WEST: Lawrence ging zu diesem Spektakel auf Distanz. Am 10. Januar 1920 berichtet er an einen Bekannten, die Vorträge »sind so widerwärtig wie nur möglich und erschweren mir das Leben sehr, da ich weder das Geld noch den Wunsch habe, meine Dauerrolle als Hochstapler, als den er mich hinstellt, aufrechtzuerhalten. Man wüsste wirklich nicht, wo man mit dem Zurechtrücken anfangen sollte.« Das spricht nicht dafür, dass ihm diese Legendenbildung angenehm war.
THORAU: Vielleicht hat Lawrence sie zeitweise tatsächlich als »widerwärtig« empfunden. Doch zugleich hat er sich in seinem Ruhm gesonnt. Lawrence hat diese Aufführungen mehrfach besucht und Lowell Thomas immer wieder mit neuem Material versorgt. Warum munitioniert er diesen Mann, wenn er doch weiß, dass der sich nicht für die Wahrheit interessiert?
K.WEST: Charlotte Shaw, eine enge Vertraute Lawrence’, sah in ihm einen »infernalischen Lügner«. Ihr Mann George Bernard Shaw nannte ihn einen Komödianten. Was würden Sie sagen?
THORAU: Lawrence ist eine Mischung aus beidem. Er hat massiv geschwindelt und sich nicht gescheut, offizielle Berichte zu beschönigen und sie zu seinen Gunsten zu verzerren. Gleichzeitig hatte er auch komödiantenhafte Züge. In einer Gesellschaft, die sich gerne Märchen erzählt, hat Lawrence Lagerfeuergeschichten zum Besten gegeben, und er liebte es, sich zu kostümieren. Lawrence hat es genossen, seine Umwelt zu irritieren und Mitmenschen zur Zielscheibe seines intellektuellen Scharfsinns zu machen.
»Lawrence von Arabien. Genese eines Mythos«, bis 11.9.11 im Rautenstrauch-Joest Museum. www.museenkoeln.de/rautenstrauch-joest-museum
Peter Thorau, »Lawrence von Arabien«Verlag C.H.Beck, München 2010, 224 S., 19,95 Euro