Oder: Höhenflüge der Bodenständigkeit. Eine Liebeserklärung von unserem Autor, dem Kabarettisten, Schauspieler und Kulturjournalisten Stefan Keim.
Als junger Mensch wollte ich nie ein Sauerländer sein. War ich auch nicht wirklich. In Hagen geboren, in Wetter an der Ruhr aufgewachsen, war das so ein Schwellendasein. Ich weiß, manche behaupten, sogar Iserlohn wäre längst nicht Sauerland, aber lassen wir mal die Kirche im Dorf. Sauerland, das bedeutete für einen Jugendlichen Anfang der 80er Jahre Bauernhöfe, Kühe, noch mehr Kühe, und auch Bauernhöfe. Eine Gegend, in der am frühen Abend nicht die Bürgersteige hochgeklappt wurden. Aber nur weil es keine Bürgersteige gab. Ich wollte in die Städte, ins Ruhrgebiet, wo es Kultur gibt und Universitäten, wo coole Menschen wohnen. Nicht ins Sauerland.
Bis ich das Sauerland kennengelernt habe. Oder zunächst mal einige Menschen dort. Menschen wie Jojo Jostmann, den damaligen Intendanten des Parktheaters Iserlohn, einen unermüdlichen Aktivisten und Macher. Jostmann hatte zuvor das Schleswig-Holstein-Festival mit aufgebaut. Topkultur aufs Land bringen, das war sein Ding. Oder Georg Spielmann, der Inhaber der Buchhandlung Dreimann in Olpe. Hinreißende Literaturevents hat er gestaltet, oft im Cineplex, wo man auch leidenschaftliche Filmnerds treffen kann.

Dann rief eines Tages Hermann J. Hoffe an und erzählte mir von seinem WOLL Verlag in Schmallenberg. Hier erscheinen eine Menge Bücher unterschiedlichster Autoren aus dem Sauerland. Einige davon habe ich kennengelernt, zum Beispiel Rainer Hänsch. Am populärsten ist er wohl als Sänger und kreativer Kopf der Kultband Zoff. Er hat die Sauerland-Hymne geschrieben, die in der Region jeder kennt: »Sauerland, mein Herz schlägt für das Sauerland. Begrabt mich mal am Lennestrand. Wo die Misthaufen qualmen, da gibt’s keine Palmen.« Wer mal erlebt hat, wie das Publikum mitgeht, wenn Rainer zur Klampfe greift, weiß, dass in Sachen Temperament niemand dem Sauerländer etwas vormachen kann. Und der Sauerländerin erst recht nicht.
Es ist nur nicht so, dass man gleich von Anfang an ausflippt. Erstmal guckt man sich an, wer da ist. Und was der will. Und ob der das aushält, wenn man ihn erst mal anguckt. Das muss der nämlich aushalten. Sonst stimmt was nicht mit dem.
Klar, auch Sauerländer*innen sind ein diverses Völkchen. Da gibt es die herzlichen und die verborgen herzlichen. Die ganz herzlichen trifft man zum Beispiel in Silberg. Das ist ganz hinten im Sauerland, über den Hügel rüber ist schon Siegerland. Dort hat ein tolles Team rund um Ulrike Wesely aus einem denkmalgeschützten Gebäudeensemble namens Schrabbenhof ein Kulturgut gemacht. Mit einem kleinen Theater für Konzerte und Kabarett, einem noch kleineren Raum für Kneipenquiz und Lesungen, für Trödel und Kaffeeklatsch und alles, was Spaß macht. Eine Oase für bekloppte Ideen, die einfach mal ausprobiert werden und die glücklich machen.
Das Sauerland ist alles andere als kleingeistig. Hier gab es immer schon Erfinder und Querköpfe. Manche Firmen sind in ihrem Bereich Weltmarktführer. Aber sie strunzen damit nicht rum. Weil das eigentlich niemanden was angeht. Angeberei ist dem Sauerländer fremd. Was ihn auszeichnet ist Verlässlichkeit, Bodenhaftung und Ausdauer. Wenn ein Sauerländer mal – sagen wir mal – von einer Bundeskanzlerin gedemütigt und rausgeschmissen wird, dann wartet er ein paar Jahrzehnte. Er macht nebenbei ein paar Millionen, und dann sitzt er selbst im Kanzleramt. Letztens hat eine Bekannte Friedrich Merz beim Besuch in seiner Heimat gesehen. Wie war er? Er hat nett gegrüßt. Den Rest braucht keinen zu interessieren.
Pumpernickel-Power und Bodenhaftung
Vielleicht lässt sich die Seele des Sauerländers am besten begreifen, wenn wir eine Spezialität unter die Lupe nehmen. Pumpernickel. Ich weiß, bei diesem schwarzen Brot scheiden sich die Geister. Ein holländischer Reisender schrieb im 16. Jahrhundert: »Welch ein armes Volk, das seine Erde essen muss.« Umgekehrt wird ein Brot draus. »Welch ein reiches Volk, das seine Erde essen kann.« Richtiges Pumpernickel braucht lange in der Zubereitung. Die Roggenkörner werden über Nacht in warmes Wasser gelegt, damit sie aufquellen und man sie überhaupt backen kann. Sauerländer kriegen nur langsam was gebacken. Aber dann richtig. Und wenn das Pumpernickel in den Ofen kommt, braucht es 16 bis 24 Stunden. Weil es nur ganz langsam gar wird. Da gibt es keine Hefe. Vielleicht kann man so Rheinländer und Sauerländer unterscheiden. Rheinländer sind Puddingschnecken. Sauerländer sind Pumpernickel.
Dieses Brot, das so lange zum Backen braucht, ist dafür auch ewig haltbar. In Soest gibt es die älteste Pumpernickelbäckerei, die Bäckerei Haverland, 1570 gegründet. Es gibt das Gerücht, dass sich Pumpernickel aus den Anfangsjahren der Bäckerei erhalten hat und heute noch gegessen werden kann. Man muss nur ordentlich kauen. Bis man so einen Brocken Pumpernickel verdaut hast, vergeht eine Woche. In der hat man keinen Hunger. Rheinländer kriegen so was überhaupt nicht verdaut. Wenn die mal Pumpernickel essen, tragen sie es ihr Leben lang mit sich herum oder sie lassen es operativ entfernen. Es wird von sauerländischen Soldaten berichtet, die haben – wenn ihnen die Kugeln für Kanonen ausgegangen sind – mit Pumpernickel geschossen. Der legendäre Baron von Münchhausen hat vielleicht seinen legendären Ritt auch auf einem Pumpernickel gemacht. Da hatte er gleich noch Reiseverpflegung dabei. Ist nur eine Theorie.
Ich komm ins Erzählen. Ja, das kann auch einem Sauerländer passieren. Wenn es passt. Ich habe dazu gelernt. Heute bin ich stolz, wenn mich jemand einen Sauerländer nennt. Weil das für mich bedeutet, er hält mich für zuverlässig und gerade, ein bisschen seltsam vielleicht, aber soll er doch. Vielleicht gibt es bei uns mehr Flanschenproduktion als Flaniermeilen. Aber wer so schöne Höhenzüge hat, braucht gar nicht mehr abzuheben. Hier kann man die Welt von oben betrachten und gleichzeitig Bodenhaftung behalten. Und sich ein Stück Pumpernickel in den Mund stecken. Das Sauerland ist eine Macht. Durch Pumpernickel-Power. Das würden wir sagen, wenn wir Rheinländer wären. Aber sind Sauerländer. Wir denken so was nur. Und kauen weiter.
DIE NÄCHSTEN AUFTRITTE VON STEFAN KEIM IN NRW:
13. SEPTEMBER, TANGO WESTFALICO, KUNSTFEST PASSAGEN IN MENDEN
16. SEPTEMBER, WESTFALEN-KABARETT »JENSEITS VON WOLL«,
ZENTRALBIBLIOTHEK UNNA
18. SEPTEMBER, »DER MÖNCH MIT DER KLATSCHE« (KOMÖDIE NACH
EDGAR WALLACE) STADTHALLE FRECHEN
19. SEPTEMBER, »DER MÖNCH MIT DER KLATSCHE«, THEATER HAGEN