Es blüht rot und orange. Am meisten aber zieht der lila Zierlauch: Kohlweißling, Distelfalter, Großer Fuchs fliegen auf die Blütenbälle. Der Ehrenhof ist ein echtes Schmetterlingsparadies an diesem warmen Septembertag. Fast zu schade, um sich nach drinnen zu verziehen. Doch auch ins NRW Forum locken angenehme Erwartungen: »Willkommen im Paradies« so verheißt der Ausstellungstitel.
Folgt man allerdings dem Hinweis der Dame an der Museumskasse und schlägt den Weg nach links ein, so findet man sich zunächst hinter Gittern wieder: In Paola Pinnas »Rattenkäfig« hat man Gesellschaft von einer Avatarin, die mit gruselig leeren Augen aus ihrem Bildschirm schaut. Dazu wird mit scheppernder Echostimme ein Monolog vorgetragen – es geht um Freiheit und Selbstbefreiung in einer digitalen Umgebung. Am Ende öffnet sich der Käfig für die Avatarin: »The time has come to set yourself free from the bars of your own rat cage.« Und der Rundgang startet mit Spannung: Was wohl wird einen in diesem Kunst-Paradies erwarten?
Kein Zierlauch, keine bunten Falter. Dafür allerhand digitale Inszenierungen, multimediale Installationen und interaktive Apparaturen. An die 20 Künstler*innen oder Gruppen bestücken die Ausstellung im NRW Forum. Sie führen in durchweg künstliche, oft digitale Welten, die allerdings selten paradiesisch wirken.
An den Wänden im ersten finsteren Raum sieht man, Gestirnen gleich, die fluoreszierenden 3D-Schwarzlichtmalereien von Eugen Schramm leuchten. Dazwischen läuft das Getriebe der »RaumZeitPiraten«: Aus Stangen und Kabeln, Lampen und Motoren zusammengebastelt, gleicht dieses Werk einer aktualisierten Neuauflage von Jean Tinguelys kinetischen Kunst-Maschinen. Hier aber kommt noch reichlich Sensorik hinzu, die das Konstrukt sensibel macht und auf Bewegungen der Betrachter*innen reagieren lässt.
Auf verschiedene Weise einnehmen will die Ausstellung. Mit Kunst, die man hören oder riechen, betreten und bespielen kann. Mit Arbeiten, die neue Räume öffnen oder in surreale Gefilde entführen: Hinter Dagmar Hugks Vorhängen aus blutroten Verästelungen etwa wartet ein Wald in der Dämmerung. Dort läuft buntes Licht im Schwall die Wand hinab wie ein Wasserfall und weiter über den Fußboden. Mit jedem Tritt entweicht das falsche Nass oder es verändert seine Farbe.
Zur Rast ruft ein unechtes Lagerfeuer, das flackert und knistert, aber nicht wärmt. Von den Hockern rings um schaut man in die Glut oder in die von der Künstlergruppe »Prise Salz« entworfene Pflanzenwelt und erkennt bald, dass hier kaum etwas ist, wie es scheint. Auch in der Kunst treibt das Upcycling seine Blüten: Statt Blättern hängen Krawatten an den Bäumen, und die Blumen sind aus Socken geformt. Schmetterlinge fehlen in diesem Garten Eden. Und ebenso der verführerische Apfel.
Doch gegenüber, auf der anderen Seite im NRW Forum, hat er einen großen Auftritt: Noriyuki Suzuki spannt den Apfel ein in ein astronomisches Gerät. Umgeben von Kameras wird er dort überwacht und untersucht und abgetastet, wie in einem Labor. Als wolle man auf wissenschaftlichen Wegen das Geheimnis der verhängnisvollen Frucht ergründen. Alles zwielichtig Verwunschene ist in diesem zweiten Teil der Ausstellung verschwunden. In gleißend weißen Sphären spielt man mit spiegelnden Kugeln oder stellt einer mythischen Priesterin Fragen zu Liebe und Erkenntnis. Oder man verliert sich im gelben Dunst zwischen Nebelringen, die eigentlich nach Früchten, Blumen, Bäumen duften sollen. Allerdings kommt kaum etwas von den natürlichen Aromen in der Nase an – vielleicht ist die Maske Schuld.
Auch draußen vor den Türen des NRW-Forums, bei der »weltweit erste Augmented Reality Biennale«, ist man allseits umgeben von Kunst. Die aber nur sehen und erleben kann, wer Smartphone oder iPad dabeihat, Hürden wie leere Akkus oder vergessene Passwörter aus dem Weg räumen kann und nicht knausern muss mit den mobilen Daten. Dann kommt der App Store ins Spiel und auch Paypal muss sein. Denn mit der kostenlosen App allein ist es nicht getan. Wer das Spektakel komplett erleben will, muss 4,99 Euro investieren. Was durchaus ein Hindernis sein kann für die ganz junge Zielgruppe, die bei dem Stichwort Augmented Reality, kurz AR, wahrscheinlich zuerst an die Gratis-Gesichtsfilter von Snapchat denkt.
Diese Sorte Publikum macht sich denn auch rar an dem schönen Nachmittag in Ehrenhof und Hofgarten. Eher sind es digital ambitionierte Ü50er, die durch das Grün streifen, die QR-Codes am Wegesrand scannen und anschließend ihre Handys suchend in Wiesen und Brunnen, auf Wände, oder gen Himmel halten.
Wenn die Sonne nicht zu sehr blendet und das Display nicht zu sehr spiegelt, kann man auf dem Bildschirm Dinge sehen, die sich ganz selbstverständlich in die reale Umgebung fügen. Zum Beispiel einen schwebenden Riesenwurm, der sich sogar virtuell melken lässt: »Genius loci« nennt Theo Triantafyllidis‘ seine Schöpfung. Und in der Tat beschreibt der freundliche Wurm recht treffend den »Geist des Ortes« und dieser Biennale.
Originell sind die Werke der 19 internationalen Künstler*innen und Kollektive, oft witzig und mitunter auch überraschend. Wenn man etwa vor dem Kunstpalast eine Diebin stellt, wenn man auf dem Schachtisch im Park Computerkriegern beim Kämpfen zuschaut. Oder wenn man per Handy Rosen vom Boden aufsammelt, um sie anschließend in einen Eimer zu befördern. Spaß macht es auch, die sieben kleinen »Feen« aufzuspüren. In Wirklichkeit sind es Balletttänzer*innen, die gefilmt, geschrumpft und auf Mauern oder ins Gebüsch verpflanzt wurden. Per Bildschirmfoto sind sogar Biennale-Erinnerungsfotos machbar: Reale Besucher posieren mit Riesenwurm oder Minifee.
Das große sehr aufwändige Biennale-Experiment gibt erste Einblicke. Deutet an, was AR als künstlerisches Medium bringen kann. Kommende Ausgaben müssen jedoch zeigen, wie sich das technologische Gerüst mit relevantem Inhalt füllen lässt.
Für heute ist der Akku ausgepowert. Kein Riesenwurm mehr weit und breit. Doch Admiral und Großer Fuchs flattern weiter, auch ohne Power Bank.
NRW Forum Düsseldorf, »Willkommen im Paradies«, bis 9. Januar 2022
»AR Biennale«, bis 20. Februar 2022