…ist, dass im »EinfachMalSingenChor« immer wieder kleine Wunder geschehen. Durch das Singen erleben Gesunde und Menschen mit Demenz etwas gemeinsam, haben gemeinsam an einer Sache Spaß anstatt sich zu ärgern, dass man gerade schon wieder das Gleiche erklären musste, dass die Handtasche weg ist oder dass wieder etwas nicht geklappt hat. All solche Probleme, die zum Alltag mit dementiell veränderten Menschen gehören, verschwinden beim Singen.
In jeder Probe habe ich mindestens eine Person, die am Anfang unbeteiligt ins Leere guckt, ehe ich plötzlich das richtige Lied erwische und der selbe Mensch 20, ja manchmal 50 Jahre jünger wird. Das gibt einem Musiker wie mir sehr viel zurück. Ich habe mal eine über 90-Jährige erlebt, von der wir nicht sagen konnten, inwiefern sie überhaupt noch ihre Identität kannte. Plötzlich hat sie sich Lieder von Schubert gewünscht, mitgesungen und hinterher erzählt, dass sie eigentlich Opernsängerin werden wollte. Das sind Momente, für die wir diese Arbeit machen.
In unserem Chor sind 30, manchmal 40 Prozent der Sänger*innen in unterschiedlichen Stadien der Demenz. Die anderen sind gesund, oft sind es die pflegenden Angehörigen. Nicht selten kommen Paare, von denen einer dement ist. Oder zuletzt war eine Tochter mit ihrem Vater da. Unsere Proben finden bewusst in Kulturstätten, meist in der Halle 32 in Gummersbach statt. Absichtlich nicht in den Pflegeeinrichtungen, damit wir die Menschen zunächst einmal rausholen aus ihrem Alltagsumfeld.
Die Proben leite ich eigentlich immer gemeinsam mit Michael Becker. Allein würden wir das kaum schaffen, denn die Arbeit ist sehr intensiv. Meistens hat Michael seine Gitarre dabei und sitzt oft direkt unter den Leuten. Ich habe mir angewöhnt, dass ich am Klavier stehe, weil ich so den Blick besser zu den Menschen halten kann. Wenn ich sie anschaue, dazu die Lippen bewege – dann geht bei ihnen plötzlich etwas los. Ich bemühe mich immer, dass wir Lieder singen, die allen – den Gesunden genauso wie den Erkrankten – Spaß machen. Aber am meisten berührt uns die Musik, die wir schon seit unserer späten Pubertät, also zwischen 13 und 25 Jahren, sehr mochten. Daran kann man sich immer ein bisschen entlanghangeln, wenn man das ungefähre Alter der Chormitglieder kennt. Wir singen aber nicht nur Volkslieder. Ich nehme immer wieder Neues mit dazu, um alle Sinne zu stimulieren. Gestern zum Beispiel haben wir Bruder Jakob auf deutsch, finnisch und chinesisch im Kanon gesungen. Das geht, wenn man die Texte dazu per Beamer an die Wand wirft.
Basierend auf meinen Erfahrungen habe ich mit »Socken im Kühlschrank« ein »Dementical«, ein Musical geschrieben, das 2019 uraufgeführt wurde. Zurzeit arbeite ich an einem Album, damit das Stück bekannter wird und es womöglich auch andere Gruppen aufführen können. Darin gibt es einen Song, der »Ich rüttel an Türen« heißt, denn so stelle ich mir das vor. Die Musik ist wie ein Schlüssel, durch den wir den Menschen ein Stück ihrer Identität zurückgeben. Bei Demenz ist das Wissen ja nicht weg – nur der Zugang dahin.
Aufgezeichnet von Annika Wind
Name: Joachim Kottmann
Alter: 52
Beruf: Komponist, Musical-Autor, Musikpädagoge, Leiter der Musikschule
Bergneustadt und u.a. des »EinfachMalSingenChores für Menschen mit und ohne
Demenz«
Wohnort: Bergneustadt
Joachim Kottmann kam 2013 auf die Idee, mit Michael Becker einen Chor für Menschen mit und ohne Demenz in Gummersbach und Bergneustadt zu gründen. Die Initiative war durch Ursula Kriesten von der Akademie für Gesundheitswirtschaft und Senioren entstanden, die zunächst nur ein paar Künstler*innen dazu bringen wollte, sich mit dem Thema Demenz zu beschäftigen – schon ein erster Aufruf brachte auf einen Schlag 50 Leute zusammen. Das nächste Mal ist »Socken im Kühlschrank – das Dementical« am 19. Oktober 2023 in der Halle 32 in Gummersbach zu sehen.