Es war ein blindes Mädchen, das Anna Flemmer die Augen öffnete und ihrem Berufsweg eine Richtung gab. Die gebürtige Bad Salzuflerin steckte mitten im Modedesign-Studium, als sie in ihrem Ehrenamt bei der Lebenshilfe ein Mädchen kennenlernte, das schon als Kind erblindet war. »Wir haben uns regelmäßig getroffen, auch zum Kinderturnen. Beim Umziehen ist mir aufgefallen, dass sie ihre Kleidung manchmal falsch herum anzog. Darüber hat sie sich sehr geärgert. Und als Modedesignerin dachte ich: Was kann ich verbessern, um ihr mehr Eigenständigkeit zu ermöglichen?«, erzählt Anna.
Das Thema lässt sie seitdem nicht mehr los. Ihre Bachelor-Arbeit wurde mehrfach preisgekrönt: Gemeinsam mit einem Team aus Blinden und Menschen mit starker Seheinschränkung entwickelte Anna Flemmer Design-Lösungen, um ihnen den Umgang mit Mode zu erleichtern. »Blinde Menschen sehen mit dem ganzen Körper«, sagt sie. In ihrer Kollektion »SAME:SAME« gibt es daher kein Vorne, Hinten, Rechts und Links. Reliefartig fühlbare Muster, klingende Stoffe, gut ertastbare Webarten spielen eine wichtige Rolle. Alle Teile sind wendbar und sowohl von Männern als auch Frauen tragbar. Und die Pflegehinweise? Sind auf Kork-Etiketten in Brailleschrift in die Kleidung integriert oder lassen sich durch QR-Codes vorlesen.
Inzwischen hat Anna Flemmer ihr Studium beendet und sich ganz der inklusiven Mode verschrieben, über die sie auf Kongressen und in Workshops informiert. Labels, Shops und Verbände können sie als Beraterin buchen und von ihren Erfahrungen im Designthinking für und vor allem mit Menschen mit Behinderung profitieren. »Menschen mit körperlichen Behinderungen sollen sich nicht anpassen müssen – ihre Umgebung und Kleidung wird an sie angepasst«, lautet ihr Credo. Was dafür nötig ist, können eigentlich nur sie selbst wissen – und die müssen als Experten zwingend einbezogen werden, fordert Anna Flemmer. »Die Modeindustrie öffnet sich für Themen der Nachhaltigkeit und Inklusion, allerdings sehr langsam«, weiß sie.
Ende der 1990er Jahre war die US-Sportlerin Aimee Mullins die erste Frau ohne Beine auf einem Laufsteg – sie präsentierte eine Alexander-McQueen-Kollektion für Givenchy. Die Aktion brachte viel Aufmerksamkeit, bleib aber ein Marketing-Coup. Ein großes Unternehmen, das im Jahr 2016 eine eigene Kollektion für Menschen im Rollstuhl herausbrachte, war das US-amerikanische Label Tommy Hilfiger. Nachahmer-Effekte großer Labels gibt es bislang nicht – adaptive, inklusive Mode bleibt in der Nische. »Es gibt zwar einige Kampagnen mit Menschen mit Beeinträchtigungen, aber das ist häufig vor allem Marketing, Social Washing. Es reicht nicht, Diversitätstrends hinterherzujagen«, urteilt Anna Flemmer.
Das bestätigt auch Dr. Beate Schmuck von der TU Dortmund. Die Kulturwissenschaftlerin beschäftigt sich am Institut für Kunst und Materielle Kultur mit Mode und Behinderung und hat 2020 gemeinsam mit den Rehabilitationswissenschaften den interdisziplinären Forschungsband »Fashion Dis/ability« herausgegeben. »Auch wenn Menschen mit Behinderung in der Mode und Werbung durchaus sichtbarer werden – eine echte, barrierefreie Teilhabe an der Mode ist damit noch nicht verbunden, sagt sie. In ihrem Forschungsbeitrag schildert sie die zarten Anfänge seit dem Millennium, Behinderungen sichtbar zu machen, aber auch die lange Tradition, sie durch Mode erst zu schaffen – man denke an Korsette, die Wespentaillen formen oder an High Heels, die das natürliche Laufen unmöglich machen und die Füße deformieren.
»Historisch gesehen hatte Mode für ihre Trägerinnen und Träger häufig ja gerade den Zweck, sich abzugrenzen oder einer exklusiven Gruppe zuzuordnen«, sagt Beate Schmuck. »Genauso hat Mode aber auch eine starke inklusive Kraft, wenn ihr Potential denn nur allen Menschen zur Verfügung steht. Zum Menschenrecht auf Selbstbestimmung gehört auch die Kleiderwahl.«
Je nach Art der Behinderung ist es für die Betroffenen schwierig, dieses Recht zu leben. Wer etwa im Rollstuhl sitzt, verzweifelt an tief geschnittenen Jeans, drückenden Nieten oder Taschen, unerreichbar sitzenden Reißverschlüssen und zu kurz geschnittenen Beinlängen. Für viele Menschen mit Behinderungen gerät das An- und Ausziehen zur sportlichen Herausforderung. Besonders schwer haben es kleinwüchsige Menschen, die passende Kleidung zu finden – für ihre besonderen Körperproportionen haben Modelabels schlicht keine Schnitte im Angebot.
Kleine, innovative Labels reagieren seit einigen Jahren auf diese Marktlücke. In dieser Nische bewegt sich etwa das Berliner Label »Auf Augenhöhe«, das seit zehn Jahren coole Mode für kleinwüchsige Menschen macht und dafür eigens ein Konfektionsgrößen-System entwickelte. Die Vision von Unternehmensgründerin Sema Gedik ist jedoch inklusive Mode – keine Sonderlösungen, sondern Mode, die möglichst für alle Menschen funktioniert. Denn oft machen schon kleine Details und Schnittänderungen einen großen Unterschied – Reißverschlüsse zum Beispiel, die bewusst an gut erreichbarer Stelle gesetzt werden. Kurz geschnittene Oberteile kommen Menschen, die lange im Büro sitzen, gleichermaßen entgegen wie Rollstuhlfahrer*innen. Adaptive Jacken können mit nur einer Hand zugemacht werden; Hemden haben magnetische Knöpfe. Von weiten Beinöffnungen oder verstellbaren Hosen profitieren Menschen mit Beinschienen, Verbänden und Prothesen.
Mode für alle – in diese Richtung denkt auch Jakob Sahm, Mitgründer des Burbacher Labels mosja, das neben einem Onlineshop auch ein Ladenlokal im siegerländischen Neunkirchen betreibt und 20 Prozent seiner Gewinne an wechselnde soziale Projekte spendet. »Unsere Kleidung ist weit, weich und bequem – tragbar für (fast) alle«, sagt Jakob Sahm. Zuletzt hat mosja die inklusive Kulturarbeit der Lebenshilfe Dillenburg bedacht. Eine junge Frau mit Schwerstmehrfachbehinderung gestaltete gemeinsam mit dem Maler Santiago Gallardo eine grafische Vorlage, die nun die Shirts und Kleider der Kollektion »Better together« schmückt.
Beim abschließenden professionellen Fotoshooting standen auch Menschen mit Downsyndrom vor der Kamera und präsentieren die neue Kollektion nun direkt auf der Startseite des Onlineshops mosja.de – denn auch die Sichtbarkeit von Menschen mit Behinderung in der Modewelt ist ein wichtiges Ziel. »Nur so können sie als Zielgruppe auch wahrgenommen werden«, sagt Anna Flemmer. »Allein in Deutschland haben circa 10 Prozent der Menschen eine ständige schwere Behinderung – dazu kommen all jene, die temporär eingeschränkt sind, etwa weil sie sich einen Arm brechen oder eine Augen-OP haben. Barrierefreie Mode ist sinnvoll für alle.«