Nähen, nähen, nähen im Akkord. Ein Zuschnitt nach dem anderen wird durch die Maschine geschoben. Die Nadel gibt den Rhythmus vor in der nordchinesischen Kleiderfabrik – von acht Uhr morgens bis elf Uhr abends, sieben Tage in der Woche. Wang Bing hat den unmenschlichen Alltag mit der Kamera begleitet und das Ergebnis bereits 2017 bei der documenta in Kassel zeigen können. Jetzt holt das Marta seinen Film aus Huzhou nach Herford ins Museum, wo er im Rahmen der Ausstellung »Look – Enthüllungen zu Kunst und Fashion« läuft. Komplett und in einem Stück wird man ihn da allerdings kaum ansehen können, denn das Epos reicht vom Morgengrauen bis in die Nacht. Mit einer einzigen Kameraeinstellung drehte Wang Bing 15 Stunden ohne Pause, denn genauso lang dauert die Schicht. Auch dies ist Teil des globalen Systems hinter der Mode.
Seit einigen Jahren schon zieht das große Fashion-Thema seine Kreise durch die Museumslandschaft. Armani, Burberry oder Chanel kommen zu Ehren. Stardesigner*innen von Karl Lagerfeld bis Vivienne Westwood bestücken die Ausstellungsvitrinen mit ihren Entwürfen. In Herford bleiben die Held*innen der Haute Couture nun aber außen vor. Stattdessen werden neben Wang Bing gut 30 weitere zeitgenössische Künstler*innen geladen, die mit ihren Arbeiten der letzten rund 20 Jahre ganz unterschiedliche, oft spannende, mitunter erschütternde und auch unerwartete Aspekte rund um die Modeindustrie und den aktuellen Fashionbegriff reflektieren.
Es geht um die Produktion und den Konsum. Um Fragen der Ökonomie und Ökologie. Um individuellen Ausdruck und digitale Idealisierung… Mode und Bildende Kunst kommen sich dabei oft sehr nahe, sind manchmal kaum mehr zu trennen. Bei Hrafnhildur Arnardóttir zum Beispiel – denn ihre plüschigen Werke aus bonbonfarbenem Synthetik-Haar machen sich im isländischen Pavillon der Venedig-Biennale ebenso gut wie als Beigaben zur Herbst-/Winter-Kollektion des japanischen Modelabels Comme des Garçons. Auch im Marta wird die Finnin ein sicher spektakuläres Beispiel ihrer haarigen Knüpf-, Web- und Flechtarbeit installieren.
Spielchen mit Schönheitsfiltern
Eine Grenzgängerin auf anderen Wegen ist Britta Thie aus dem ostwestfälischen Minden, die sich das Kunststudium mit Model-Jobs finanziert hat – also sozusagen in beiden Sphären zu Hause ist oder war. Ihr Insider-Wissen stellt sie im 2012 gedrehten Film »Shooting« unter Beweis: Auf Zuruf verwandelt die Künstlerin in Windeseile ihren Ausdruck. »…Schultern buckeln, knochiger, arroganter, arroganter, leiden, mehr leiden, arroganter leiden… «, immer schneller, immer lauter, immer aggressiver werden die Anweisungen. Thie kennt das Posen auf Kommando und hält mit. Dabei führt sie die extreme Künstlichkeit der Modefotografie vor Augen und noch dazu den immensen Druck, den die Branche auf junge Menschen ausübt. Es hat etwas von Dressur.
Mensch oder Marionette? Individuum oder Abziehbild? Dies könnte man sich auch mit Blick ins Netz immer wieder Fragen, wenn das Bild des Selbst zur uniformen Instagram-Ikone mutiert. Christiane Peschek treibt das Spielchen mit den Schönheitsfiltern so weit, dass vom Gesicht nur mehr ein hautfarbener Nebel mit kräftig roten Riesenlippen bleibt.
Das Digitale ist gut für noch viel mehr modische Überraschungen. 2019 etwa kam die erste Digital Couture auf den Markt – virtuelle Kleider, die man sich kaufen und im Netz überstreifen kann. Auch bevölkern immer öfter digitale Models als Fashion-Avatare die Szene. Besonders angesagt: Noonoouri, die auf Instagram ihre Leidenschaft für Luxusmarken auslebt. Außerdem punktet die virtuelle Veganerin als ausgesprochene Umweltschützerin – eine Mischung, die bei 365.000 Follower*innen offenbar gut ankommt. Und nicht nur bei ihnen. Mit den großen braunen Manga-Augen und einem lässigen Jeans-Outfit hat Noonoouri es 2020 sogar auf das Cover der gedruckten Elle geschafft – auch im Marta wird sie nun ihre Rolle spielen.
Ein Blick über die Werkauswahl macht klar, wie ergiebig das große Modethema ist. Und wie brisant noch dazu. Denn Moden stehen nie für sich. Sie spiegeln diverse gesellschaftliche Entwicklungen: Die Modewelt zieht mit auf dem Weg ins Virtuelle. Sie stellt gängige Schönheitsvorstellungen in Frage, wenn sie üppige oder amputierte Models auf den Laufsteg schickt. Und sie reagiert auf die Diskussion um Diversität mit Entwürfen, die sich nicht länger an der klassischen Geschlechterzuordnung orientieren. Die Branche bedient auch die Widersprüche: eine Gesellschaft, die sich nicht entscheiden kann zwischen Konsumrausch und Nachhaltigkeits-Streben wird mit massenhaft Billig-Klamotten oder fair produzierten Einzelstücken aus Biobaumwolle oder recycelten Plastikflaschen zufrieden gestellt.
Als ruhige Insel in Martas aufregendem Modezirkus könnte Christian Haakes »Passage« dienen. Denn hier bleiben die großen Schaufenster leer und lassen Freiraum für Gedankenspiele. Liegt im Konsumverzicht die Lösung vieler Probleme? Oder wäre uns vielleicht auch schon mit spartenübergreifendem Recycling geholfen? Hendrickje Schimmel zeigt wie es geht, wenn sie industriell gefertigte Second-Hand-Kleider zerlegt, analysiert und dann in skulpturalen Werken zusammenführt. Wer weiß, vielleicht findet sich in Schimmels Assemblagen ja auch eine der eilig geschneiderten Jeans aus Huzhou nachhaltig veredelt.
Marta Herford, 4. September bis 6. März 2022, www.marta-herford.de