Wolfgang Tillmans fotografierte 1991 seine Mutter. Foto: Wolfgang Tillmans, Domestic Scene, Remscheid, Courtesy of Galerie Buchholz, Maureen Paley, London, David Zwirner, New York
Wolfgang Tillmans fotografierte 1991 seine Mutter. Foto: Wolfgang Tillmans, Domestic Scene, Remscheid, Courtesy of Galerie Buchholz, Maureen Paley, London, David Zwirner, New York
Der renommierte Künstler Wolfgang Tillmans kehrt mit der großen »Ausstellung in Remscheid« in seine Geburtsstadt zurück. Und ruft damit auch das Haus Cleff als Teil der Museumslandschaft wieder in Erinnerung.
Wir befinden uns im Tillmans-Jahr: Allein in der ersten Hälfte 2025 starten drei Einzelausstellungen des Künstlers. Der Reigen hat schon im März mit »Weltraum« im Albertinum Dresden begonnen. Im Juni stellt ihm das Pariser Centre Pompidou eine »Carte Blanche« aus, so der Ausstellungstitel. Zwischendrin kommt der 56-Jährige, dessen Arbeiten 2022 solo im New Yorker Museum of Modern Art zu sehen waren, in die deutsche Provinz: Am 13. April eröffnet die »Ausstellung in Remscheid« mit Foto- und Videoarbeiten im Haus Cleff.
Zu verdanken ist dies natürlich der Tatsache, dass Wolfgang Tillmans 1968 in der bergischen Stadt geboren wurde und die Bindung an die kleinste Großstadt in NRW nie so ganz verloren hat. Und wohl auch der Chance, mit der Ausstellung einen Ort neu zu erschließen, der zehn Jahre lang völlig vom Radar verschwunden war. Auf 600 Quadratmetern und drei Etagen bespielt Tillmans bis Anfang Januar 2026 kein Kunstmuseum – ein solches existiert in Remscheid nicht –, sondern die 30 Räume von Haus Cleff. Es ist Teil eines Gebäudekomplexes, in dem das Deutsche Werkzeugmuseum untergebracht ist – ein prachtvolles Patrizierhaus im typisch bergischen Stil mit Schiefer-Fassade, Schieferdach und grünen Fensterläden, mit Kassettenfenstern und Rokoko-Ornamenten rund um die zahlreichen Dachgauben.
Erbaut wurde es 1778/79 von den Unternehmer-Geschwistern Peter Caspar und Johann Peter Hilger. Als Kaufleute vertrieben sie die von der heimischen Eisenindustrie hergestellten Werkzeuge in alle Welt. Selbstbewusst verweisen die Wappen Russlands und Hollands über den Flügeltüren der Vorderseite auf die internationalen Handelspartner. In der ehemaligen Küche tragen Delfter Fliesen die Initialen der Bauherren.
Wolfgang Tillmans: »Sirius Through a Defocused Telescope, b«, 2023. Courtesy of Galerie Buchholz, Maureen Paley, London, David Zwirner, New York
Später wohnte ein Bürgermeister in dem Haus, ab 1847 übernahmen die Brüder Cleff das Gebäude und erweiterten es um ein Kontorhaus und zwei Produktionshallen. Seit 1927 betrieb die Stadt Remscheid Haus Cleff und die Nachbargebäude als Heimatmuseum. Das heutige Deutsche Werkzeugmuseum ist das einzige in Deutschland, das sich der Entwicklung von Werkzeugen von der Steinzeit bis heute und dem Handel damit widmet. Nach der Wolfgang-Tillmans-Ausstellung wird das »Museum Haus Cleff« eine Dauerausstellung zu Wirtschaft und Handel der Stadt Remscheid zeigen. Der Ausflug in die Kunst bleibt also wohl einmalig.
Zehn Jahre lang war Haus Cleff für die denkmalgerechte Sanierung von außen und innen geschlossen. Wolfgang Tillmans begleitete sie. Der Künstler ist dafür bekannt, sich sehr intensiv mit den Räumlichkeiten seiner Ausstellungen auseinanderzusetzen – häufig übernachtet er sogar in den Museen, um ganz in Ruhe Möglichkeiten des Gebäudes auszuloten und Verbindungen zwischen Werk und Raum zu entdecken.
Das gilt auch für die »Ausstellung in Remscheid«, die Tillmans als Installation konzipiert und die er selbst kuratiert. Ausgehend von der Historie des Gebäudes und seiner Nutzung erzählt sie von Remscheid als Stadt der Werkzeugindustrie und der Arbeit, führt aber auch zurück zu Tillmans eigenen Wurzeln.
Ikone der Arbeit
Wolfgang Tillmans hatte Remscheid nach der Schulzeit zunächst für den Zivildienst in Richtung Hamburg verlassen, studierte dann in London und lebt heute in Berlin. Dass er schon als Schüler und junger Erwachsener mit dem Medium der Fotografie, des Films und der Fotokopie experimentierte, davon zeugen einige Arbeiten aus den 1980er und 1990er Jahren. Als er die Schwarz-Weiß-Serie »Springer« fotografierte – sie zeigt einen von schroffen Felsen pfeilgerade ins diagonal durchs Bild laufende Wasser springenden Mann – war er 19 Jahre alt. Vier Jahre später fotografierte er in Remscheid seine Mutter von hinten, in Unterhemd und mit einer Trockenhaube auf dem Kopf an einem überfüllten Schreibtisch sitzend, Auge in Auge mit zwei über dem Schreibtisch hängenden Porträts aus dem 19. Jahrhundert. »Domestic Scene« heißt diese berühmt gewordene Arbeit, »Häusliche Szene«. Sie verweist auf die verschwimmenden Grenzen von Arbeit und Privatleben, Geschichte und Gegenwart, Intimität und Öffentlichkeit – und passt damit geradezu ideal zum Ort der Ausstellung.
Seine abstrakten Arbeiten, etwa aus der Serie »Freischwimmer«, sind ohne Kamera in der Dunkelkammer entstanden und das Ergebnis eines analogen, handwerklichen bzw. fotochemischen Verfahrens – korrespondierend zu den Herstellungsprozessen in der Industrie.
In Remscheid zeigt Tillmans Arbeiten aus vielen Schaffensphasen und auch Fotografien, die eigens für die Ausstellung entstanden. In »Robin Fischer, Dirostahl« (2024) etwa porträtiert der Künstler einen Arbeiter in der Halle des Stahl-, Walz- und Hammerwerks, es zeigt den Porträtierten mit hitzebeständiger Silberschürze und Schutzhelm; das hochgeklappte Visier glänzt wie ein Heiligenschein – eine Ikone der Arbeit. In anderen Porträts setzt Wolfgang Tillmans seine alten Schulfreunde und späteren Londoner Weggefährten, die Künstlerin Alexandra Bircken und den Modedesigner Lutz Huelle, in Szene – aber auch internationale Stars, darunter Top-Model Kate Moss, die gelöst lächelnd und im durchsichtigen Bustier an einem Tisch voller Erdbeeren, Cocktailtomaten und kleiner Kartoffeln sitzt.
Die »Ausstellung in Remscheid« ist ein Fest der Gleichzeitigkeit und eine großartige Einladung, den Spuren eines großen Künstlers aus der Provinz in die Welt zu folgen.
Mit der Ausstellung »21×21« haben sich die 21 RuhrKunstMuseen für ein besonderes Format zusammengeschlossen. Ihr ungewöhnlicher Dialog wird in der Villa Hügel in Essen gezeigt.
Vielfältig ist sie, die Museumslandschaft an der Ruhr. Sogar sehr. Aber wie sollte sich das zeigen? Wie sollte man sie abbilden, die unterschiedlichsten Sammlungen der sogenannten RuhrKunstMuseen? Zum 15-jährigen Jubiläum des Verbundes haben sich die Ausstellungsmacher*innen das Projekt »21×21« ausgedacht. Eine Aktion, bei der die Schätze der einzelnen Museen ebenso inszeniert wie Schnittstellen und Verbindungen zwischen den Museen gezeigt werden – in einer digitalen Ausstellung sowie einem analogen Pendant von April bis Juni in der Villa Hügel.
Das Konzept ist so einfach wie verwirrend: Jedes der 21 Museen aus dem Verbund hat ein Kunstwerk ausgewählt, das sein Profil besonders repräsentiert. Alle anderen sollten darauf mit einem Werk aus der eigenen Sammlung reagieren. So entstanden 21 Kunstnetzwerke bestehend aus 21 Objekten, die etwas Gemeinsames erzählen – assoziativ, formal oder inhaltlich. »So ist ein wunderbares Spektrum entstanden, das zeigt, dass eine ausschließliche Präsentation der Sammlung nach Kunstrichtungen eigentlich nicht mehr zeitgemäß ist«, sagt Regina Selter, Direktorin des Museums am Ostwall im Dortmunder U und Sprecherin der RuhrKunstMuseen. »In dem Prozess haben auch wir entdeckt, welche Schätze und Schwerpunkte es in den einzelnen Sammlungen gibt.« In einer digitalen Ausstellung unter 21×21.de lassen sich diese entdecken – illustrativ sind nicht nur alle Impulswerk, sondern auch jedes Impulswerk mit seinen 20 Reaktionswerken durch dünne Linien miteinander verbunden. Dabei sind die Impulswerke ganz unterschiedlich: Von Skulpturen über Gemälde bis hin zu einem Arrangement aus Vasen von Josef Albers über August Macke bis Ai Weiwei zeigen sie die Vielfalt der Kunst im Ruhrgebiet, (wenngleich man hier weibliche Künstlerinnen – mit Ausnahme Gabriele Münters – vergeblich sucht).
Klickt man auf eines der Impulswerke, öffnet sich ein neues Netzwerk mit allen Reaktionen der einzelnen Museen. Zu sehen bekommt man so ein aufregendes Geflecht, das sowohl offensichtliche Gemeinsamkeiten zwischen den Werken, als auch überraschende Schnittstellen oder diametrale Interpretationen eines ähnlichen Objektes offenbaren. Jedes der über 400 Kunstwerke wird begleitet von einem kleinen Informationstext, gelesen von Ronja von Rönne.
Aus dem Dortmunder Museum Ostwall: Anatol Herzfeld «Ohne Titel (Stahltisch)» (1969)
Das Museum am Ostwall im Dortmunder U hat sich als Impulswerk für ein Relikt der Aktion »Drama Tisch« von Anatol Herzfeld und Joseph Beuys entschieden. Drei gefesselten Beuys-Schülern wurde über ein von Anatol Herzfeld gesteuertes Schaltpult durch rote und grüne Lampen der Befehl zum Sprechen oder Schweigen erteilt. Das Team des Museums war sich bei der Auswahl schnell einig: Die Themen von Meinungsfreiheit und Zensur, die in dem Kunstwerk repräsentiert werden, erschienen hochaktuell wie das Objekt repräsentativ für das Selbstverständnis des Museums.
Aus dem Essener Museum Folkwang: Ernst Ludwig Kirchner,»Kaffeetisch« (1923/24)
Eines der 20 Reaktionsbilder auf den Stahltisch ist Kirchners »Kaffeetisch« aus der Sammlung des Museums Folkwang. »Das Bild zeigt eine ähnliche Motivik, aber gleichzeitig eine ganz andere Konnotation«, erzählt Peter Gorschlüter, Direktor des Museums Folkwang und ebenfalls Sprecher der RuhrKunstMuseen, »die Idee des Kaffeetischs ist ein sehr klassisches Motiv in der Kunstgeschichte. Bei Kirchner ist das Bild eher positiv konnotiert, es zeigt Freunde und Familienangehörige am Tisch. Das wendet sich bei Anatol um: Der Ort, wo das Gespräch stattfinden soll, wird zur Zwangsvorstellung.«
Aus der Kunsthalle Recklinghausen: Unbekannte(r) Künstler*in, »Kosmas und Damian« (16. Jahrhundert)
Nicht alle Museen reagieren auf den Stahltisch ebenfalls mit Tischen – manche Reaktionsbilder sind überraschend. So etwa »Kosmas und Damian« von einem unbekannten Künstler aus der Kunsthalle Recklinghausen aus dem 16. Jahrhundert. Auf den ersten Blick scheint das Bild mit Herzfelds Stahltisch nicht viel gemeinsam zu haben, doch die abgebildeten Heiligen, Cosmas und Damian, sind einen Märtyrertod gestorben – ein Schicksal, das sich mit der am Tisch suggerierten Folter in Verbindung bringen lässt.
Aus dem Museum Folkwang: August Macke, »Frau mit Sonnenschirm vor Hutladen« (1914)
Klickt man auf das Impulsbild des Folkwang Museums (August Mackes »Frau mit Sonnenschirm vor Hutladen«), öffnet sich ein Reigen unterschiedlicher Bilder von René Magrittes »Le Grand Siècle«, das die Rückenperspektive eines Manns mit Melone zeigt, über eine Abstraktion von Maria Helena Vieira Da Silva, deren Formen mit Mackes Bild korrespondieren bis hin zu einer Arbeit von Victor Bonato.
Aus dem Skulpturenmuseum Marl: Victor Bonato, »Sparstrumpf (1000-D-Mark)« (ca. 1995)
Der »Sparstrumpf (1000 D-Mark)«, ein durchsichtiges Bein einer weiblichen Schaufensterpuppe ist mit geschredderten Tausend-DM-Scheinen gefüllt. »Diese Reaktion aus dem Skulpturenmuseum Marl fand ich besonders interessant«, sagt Peter Gorschlüter, der Direktor des Museum Folkwang in Essen. Denn das Werk aus der Sammlung greife die Konsumkritik auf. Das Bein wirke sexualisiert, fast wie ein Fetisch. Und sorge für ein bemerkenswertes Spannungsfeld.
Aus dem Museum Ostwall: Allan Kaprow, »Taking a shoe for a walk« (1989)
Das Museum am Ostwall reagiert mit der Arbeit »Taking a shoe for a walk« von Allan Kaprow auf die Frau vor dem Hutladen. »Diese Arbeit geht weniger auf die Kopfbedeckung, als auf die Bedeutung von Schuhen ein«, berichtet Regina Selter, »so kommen wir vom Kopf zu den Füßen.« Beide Arbeiten beziehen sich auf den öffentlichen Raum. Der Schuh von Kaprow ist das Ergebnis eines Happening, bei dem Mitwirkende in der Bonner Innenstadt Schuhe an einer Schnur spazieren führten.
Neben der digitalen Ausstellung wird 21×21 vom 11. April bis zum 27. Juli in der Villa Hügel ausgestellt. Da für über 400 Kunstwerke kein Platz ist, mussten die Kurator*innen für die Ausstellung neue Wege der Vernetzung finden. So wird es Themenräume geben, die Bilder aus dem 21×21-Pool miteinander in Verbindung setzen und in manchen Fällen von neuen Werken aus den Museen ergänzt werden. In einem Raum etwa werden verschiedene Weiblichkeitskonzepte präsentiert, ein anderer widmet sich dem Thema der Dynamik. So entstehen neue Dialoge, die mit der Repräsentation einzelner Bilder auch für die Sichtbarkeit kleinerer Museen im Ruhrgebiet sorgen: »Samstags starten von der Villa Hügel aus RuhrKunstTouren mit einem Busshuttle, der verschiedene Museen anfährt. So können wir die Menschen vielleicht auch dazu animieren, mal einen Wochenendausflug an die kleineren Häuser zu machen«, hofft Peter Gorschlüter, »man ist erstaunt, was man da in den Sammlungen entdecken kann. Im Märkischen Museum Witten z. B. trifft man auf Arbeiten von Paula Modersohn-Becker und Gabriele Münter, also starke weibliche Positionen des Expressionismus. Die Ludwig-Galerie Schloss Oberhausen hat ein ganz bedeutendes, frühes, sehr großformatiges Werk von Gerhard Richter, das wir in der Ausstellung auch zeigen. Ich glaube, das ist vielen Menschen hier gar nicht so bewusst, von manchen Museen haben sie vielleicht nicht einmal gehört.« Welche Museen das sind, zeigt sich unter 21×21.de. Hier kann man außerdem herausfinden, welches davon am besten zu einem passt. Mit dem »Museums-Match«, einer Art Tinder für Kunstliebhabende, findet man hier auch das passende Match für sich, womit 21×21 die künstlerische Verkupplungsaktion perfekt macht – zwischen Bildern ebenso wie ihren Betrachter*innen.
Stan Douglas, Luanda-Kinshasa, 2013, Videostill, Courtesy of the artist, Victoria Miro and David Zwirner
Der Hartware MedienKunstVerein in Dortmund widmet sich mit einer überraschenden Ausstellung der Warteschleife als Metapher für das Leben in Mustern und Systemen, die niemand mehr komplett überblicken kann.
Beim Begriff »Warteschleife« denken die meisten Menschen wahrscheinlich an ermüdende Versuche, ihre Telefongesellschaft – oder neuerdings auch ihre Fachärztin – zu erreichen und dabei endlos lange nur Wartemusik zu hören. In die Ausstellung »Holding Pattern – Warteschleifen und andere Loops« im Hartware MedienKunstVerein Dortmund (HMKV) haben diese konkreten Situationen allerdings keinen Einzug gefunden. Der britische Schriftsteller und Kurator Tom McCarthy sieht die Warteschleife sinnbildlich für unser Leben, das oft in Mustern abläuft, die wir nicht komplett verstehen oder überschauen können.
Die Besucher*innen im dritten Stock des Dortmunder U-Turms werden von einem Summen empfangen. Es gehört zur Videoarbeit »Ambient Air« von Susan Philipsz. Sie hat eine Kunstaktion auf dem stillgelegten Flughafen Tegel in Berlin dokumentiert, bei der sie selbst in einem zweisitzigen Flugzeug über das Gelände kreiste, dabei Brian Enos Ambient-Klassiker »Music for Airports« über Kopfhörer hörte und mitsummte. Ihr Summen war in die leeren Flughafenhallen übertragen worden – und bildete auch den einzigen Ton des Videos, das in der historischen Super-8-Technik, also ohne Ton, aufgenommen wurde.
»Air ist das englische Wort für Luft, aber auch für Radio-Frequenzen – und auch die Opern-Arie stammt von diesem Begriff«, sagt Tom McCarthy und eröffnet damit den Assoziationsraum für Philipsz‘ Videoinstallation. Er findet: »Aus dieser Arbeit könnte ein neues Berliner Denkmal werden.« Ganz so weit muss man vielleicht nicht gehen, aber zumindest berührt die mit dem Turner Prize ausgezeichnete Künstlerin mit ihrem Werk einen Kern des Ausstellungsthemas, denn der englische Begriff des »Holding Pattern« meint zuerst die Taktik, mit der Fluglots*innen mehrere Flugzeuge über einem Flughafen in der Luft halten, ohne dass diese sich in die Quere kommen und im schlimmsten Fall abstürzen.
Menschen im Schwebezustand
Fast jeder etwas weiter gereiste Mensch wird genau diese Situation einmal erlebt haben, dass im Flugzeug die Durchsage kommt, dass leider noch keine Landeerlaubnis erteilt wurde und man noch eine Schleife drehen müsse. Das kann das Gefühl noch verstärken, dass das eigene Leben in fremden Händen liegt, man gerade ferngesteuert funktioniert, dass menschliche Schicksale heute auch eng mit den Kreisläufen von Technologien verbunden sind. Aber das Thema taucht nicht erst in der hochtechnisierten Welt von heute auf: »Auch in der Antike können wir es entdecken«, sagt Tom McCarthy: »König Ödipus zum Beispiel ist seit seiner Geburt in einem Muster gefangen, das er nicht versteht. Er bekommt eine Weissagung, was ihm alles Schlimmes widerfahren wird, und was er auch versucht, er entkommt den Mustern nicht.«
Tom McCarthy, 1969 geboren in London, ist eigentlich Autor und lebt mittlerweile in Berlin. In seinen Romanen, die in über 20 Sprachen übersetzt und fürs Kino, Theater und Radio adaptiert wurden, geht es oft um Menschen, die sich in einem Schwebezustand befinden, in Schleifen oder Loops, die in auch in technische oder Informations-Systeme eingebettet sein können. Weil er schon lange mit HMKV-Direktorin Inke Arns bekannt ist, konnte er sein literarisches Lebensthema jetzt zusammen mit Anne Hilde Neset kuratorisch umsetzen.
Dabei hat er Spannendes aus verschiedenen Zeiten zusammengesammelt. Schon historisch ist etwa die 12-Kanal-Videoinstallation »Deep Play« des 2014 verstorbenen Filmemachers Harun Farocki. In einem Halbkreis aus Röhrenfernsehern laufen hier synchronisiert verschiedene Aspekte des Finales der Fußball-Weltmeisterschaft 2006 im Berliner Olympiastadion. Man sieht das Spiel selbst, man sieht es in Vektoren von Ball- und Spielerbewegungen oder Angriffskorridoren und dynamischen Diagrammen dargestellt, aus denen Expert*innen herauslesen wollen, was passieren wird – oder woran es gelegen hat.
Eine Kamera filmt quasi die Götter des Olymp, also FIFA-Funktionäre, die das Spiel an einem Konferenztisch betrachten. Eine Polizeikamera überwacht einen Tunnel auf dem Stadiongelände. »Hier scheint die Drohung von Gewalt auf«, sagt Tom McCarthy, »aber geschehen ist sie dann auf dem Spielfeld – mit Zidanes Kopfstoß.« Steht man in der Mitte des Halbkreises, dann hört man nur eine Kakophonie. Tritt man an die einzelnen Fernseher heran, kann man ihren Ton isoliert wahrnehmen und sich einen Überblick über eine weitere Ereignis-Welle verschaffen. Aber es bleibt doch der Eindruck zurück, dass man alle Aspekte des Systems, das um ein derart breit wahrgenommenes Fußballspiel gesponnen wird, wohl nie ganz auffassen oder durchblicken kann.
Im Rahmenprogramm der Ausstellung läuft jeden Freitagabend im Juni und Juli ein Film oder Video von Harun Farocki im Programmkino Sweet Sixteen im Depot. »Die erste Farocki-Filmreihe in Dortmund«, wie Inke Arns anmerkt.
Die besten, sinnlichsten Arbeiten dieser Ausstellung warten in den hinteren Räumen, die man durch dunkle, nur mit einzelnen Lichtpunkten erhellte Gänge erreicht: Stefan Panhans und Andrea Winkler haben mit »Freeroam À Rebours« ein Werk geschaffen, in deren Kern zwar auch ein Video läuft, aber drumherum haben sie eine spannende Rauminstallation aufgebaut, die mit Leitplanken, Motorradhelmen und Bühnenelementen auf das Computerspiel Grand Theft Auto verweist. In diesem Spiel gibt es einen sogenannten Freeroam-Modus, wo Spielende keiner Handlung folgen müssen, sondern einfach die Umgebung der animierten Welt erkunden können.
Im Multispieler-Modus kommt es dabei zu unmotivierten Szenen. Man cruist durch die Gegend, plündert, prügelt sich oder steht einfach herum. Der Computer zeigt mit merkwürdigen, sich wiederholenden Bewegungen an, dass die Spielfigur noch am Leben ist. Das Künstlerduo aus Hattingen und Zürich hat Schauspieler*innen diese Eigenheiten und auch Fehler der Software nachspielen und sie mit Tänzer*innen in Dialog treten lassen. Entstanden ist ein merkwürdiger, aber super interessant zu betrachtender Hybrid aus analoger und digitaler Welt, eine Übertragung der digitalen Fehlerschleifen ins richtige Leben.
Im (je nach Wegesverlauf) letzten oder vorletzten Raum wartet eine der Arbeiten, wie aktuelle Ausstellungsbesucher*innen sie lieben werden: In einem Raum mit Sofas und Sitzsäcken kann man einfach rumhängen und Musik-Loops genießen, die Musiker*innen einer fiktiven Jamsession spielen. Der kanadische Künstler Stan Douglas hat sie 2013 im legendären Columbia 30th Street Studio in New York initiiert und »Luanda-Kinshasa« genannt, wie zwei gerade unabhängig gewordene afrikanische Hauptstädte. Afrikanische Musiker*innen spielen also in den USA Jazz und Funk, Musikstile, die eine enge Beziehung zur Politik und Befreiungsbewegung der Schwarzen haben. Geschehen ist diese Session bisher nur im Raum der Kunst – aber sie sollte auch im realen Möglichkeitsraum liegen, oder nicht?
Diese sinnlichen Erfahrungen machen jedenfalls schnell vergessen, dass es in der Ausstellung auch sperrige Arbeiten wie die 8-Kanal-Videoinstallation von Elizabeth Price gibt, »The Teachers«, die auf rätselhafte Weise das Ende des englischen Kohlebergbaus, Disco-Kultur, Geheim-Kult und Frauenmode zusammendenkt. Dem sowieso schon sehr textlastigen Werk ist noch ein extra Raum mit Fußnoten hinzugefügt. Vielleicht schafft man es nach ein wenig Chillen in der Jamsession, sich ihm noch zu widmen.
»Holding Pattern – Warteschleifen und andere Loops«
Im Areal Böhler geht vom 11. bis 13. April die Art Düsseldorf über die Bühne. Dabei will die Messe nicht zusammenwürfeln, sondern Positionen sortieren und Schwerpunkte setzen.
Denkmalgeschützt sind sie und lichtdurchflutet, die Fabrikhallen auf dem Areal Böhler, in die diesmal 108 Galerien ziehen – darunter wieder viele führende Händler*innen aus dem Rheinland. Allein 20 aus Düsseldorf nutzen den Marktplatz vor der eigenen Haustür, zwölf kommen aus Köln. Unter den 32 ausländischen Teilnehmer*innen reisen aber auch einige von weit her an – aus den USA und Südafrika, Korea und Kuweit. Wie schon 2024 legt die Messe auch diesmal einen Schwerpunkt auf Kunst aus Japan. Das passt, denn immerhin ist die hiesige japanische Community, nach London und Paris, die drittgrößte Europas.
Erneut zu Gast ist das »anonymous art project« – ein Kollektiv, das in Tokio einen offenen Ausstellungsraum für junge Künstler*innen betreibt und auch in Düsseldorf Einblicke in die zeitgenössische japanische Szene geben will. Ebenfalls macht sich die Masumi Sasaki Gallery auf den Weg aus Tokio und bringt unter anderem Arbeiten von Isamu Gakiya mit, der auch als Illustrator arbeitet und in seiner Kunst die Ästhetik amerikanischer Horror- und Science-Fiction-Filme aufgreift.
Art-Talk zum neuen Kunstverein-Preis Weststern
Auch Art-Talks gehören zum Programm: Der Unternehmer Jan Fischer hat den neuen Weststern-Preis für Kunstvereine und ein beachtliches Preisgeld von 90.000 Euro gestiftet, das – aufgeteilt auf drei Kategorien – im September für das beste Jahreskonzept, eine herausragende Einzelausstellung und gesellschaftliches Engagement vergeben wird. Nominiert sind für den »Weststern« 13 Kunstvereine. Doch welche Bedeutung haben sie als Experimentierflächen junger Positionen und Programmatiken, als Katalysatoren künstlerischer und kuratorischer Karrieren, als wichtige Begegnungsstätte kunst-affiner Communities? Darüber wird am 11. April um 15 Uhr gesprochen – und auch über die Frage, wie die Arbeits- und Produktionsbedingungen in den Kunstvereinen aussehen und für die Zukunft gesichert werden können.
Die Julia Stoschek Collection zeigt an ihrem Stand Arbeiten von Simon Fujiwara, der 1982 als Sohn einer britischen Mutter und eines japanischen Vaters in London zur Welt kam und vor einigen Jahren von sich reden machte, als er im Kunsthaus Bregenz das Anne-Frank-Haus nachbaute. Die Düsseldorfer basedonart gallery hat Takako Saito im Programm. Ein Heimspiel sozusagen, denn die 96-jährige Japanerin lebt und arbeitet seit bald einem halben Jahrhundert in der Landeshauptstadt. In der Messekoje wird man ihre mit kleinen weißen Würfeln besetzte »Performance Panty« bewundern können.
Neben dem japanischen Fokus gibt es wieder Skulpturenplätze für teils großformatige Werke und eine weitere Sektion für Einzelshows und besondere Projekte. Neu ist eine Abteilung, die sich dem Medium Papier widmet: Unter den sechs Aussteller*innen ist Galerist Martin Kudlek aus Köln, der sich schon bei der letzten Art Cologne auf Papierarbeiten fokussiert hat. In Düsseldorf wird er etwa Simon Schubert präsentieren – der Kölner »zeichnet«, indem er große Papierbögen knickt, faltet und ihnen so plastische Qualitäten verleiht.
Die Art Düsseldorf will nicht zusammenwürfeln, sie legt Wert darauf, das Angebot zu sortieren und in von unterschiedlichen Kurator*innen betreuten Sektionen Schwerpunkte zu setzen – auch thematische. So versammelt Linda Peitz unter dem Schlagwort »Tales of Transformation« Künstler*innen, die sich mit Nachhaltigkeit, Klimawandel und Ressourcen beschäftigen. Wie Iulian Bisercaru aus Rumänien, der mit seinen großen bunten Gemälden bei Anca Poterasu aus Bukarest vertreten ist. Knalliges Grün und wuchernde Exotik stehen hier selten für sich. Überall mischt sich der Mensch ein und stört mit seinen Eingriffen und Hinterlassenschaften die gewachsene Harmonie. Doch gibt es auch Grund zum Feiern: Mit der Galerie Ludorff zieht ein Jubilar in die Hallen ein. Und lädt als Ehrengast zum 50. einen stolzen schwarzen Gipspudel von Katharina Fritsch in die Koje.
Die Videonale ist in Feierlaune: Bei der 20. Ausgabe des Bonner Festivals für Videokunst treffen Klassiker des zeitbasierten Genres auf neue Produktionen.
Mit ihrem Song »Video Killed the Radio Star« markierte die Band The Buggles 1979 eine Zeitenwende: Damals kündigte sich der Triumph der Videokultur an. Heute ist sie nicht zuletzt dank YouTube und Social Media allgegenwärtig und hat das gute, alte Radio als Leitmedium verdrängt. Schon in den 1960er Jahren eroberte die Videokunst einen Platz im Kanon der bildenden Kunst. Zwar kann von einem Killer-Effekt in Bezug auf Malerei, Zeichnung und Skulptur keine Rede sein, doch sind Filme, Video-Installationen, animierte Arbeiten und zeitbasierte Medien aus dem Repertoire der Gegenwartskunst nicht mehr wegzudenken.
An diesem Siegeszug hat die Videonale wesentlichen Anteil. Die Idee zu diesem Festival für Videokunst brüteten Dieter Daniels, Bärbel Moser und Petra Unnützer 1984 in der Küche einer Bonner Student*innen-WG aus. Seit 40 Jahren präsentiert die Videonale im Zweijahres-Rhythmus aktuelle Arbeiten von Filmkünstler*innen. Im Zentrum steht seit 2005 eine sechswöchige Ausstellung im Kunstmuseum Bonn. Mehr als 1200 Werke umfasst das Videonale-Archiv inzwischen, darunter Beispiele renommierter Künstler*innen wie Dara Birnbaum, Klaus vom Bruch, Lynn Hershman, Gary Hill, Christian Jankowski oder Bill Viola. Eine einzigartige Enzyklopädie der Videokunst.
Die 20. Ausgabe haben Tasja Langenbach und Annette Ziegert, die künstlerischen Leiterinnen, als »Fest der Begegnung« konzipiert. »Aus Anlass des Jubiläums haben wir den offen ausgeschriebenen Wettbewerb ausgesetzt und stattdessen die Chance genutzt, tief in das beeindruckende Archiv des Festivals einzutauchen«, sagt Tasja Langenbach. »Ziel war es, historische Werke vergangener Videonalen in einen spannungsreichen und bedeutungsvollen Dialog mit aktuellen Werken ehemaliger Videonale-Künstler*innen zu bringen. Zu sehen sind daher in der Ausstellung sieben historische Videowerke zusammen mit 19 aktuellen Produktionen.« Flankiert wird das Kerngeschehen durch Video-Satelliten, die sich über die Stadt verteilen, Performances und performative Ausflüge, Führungen, Workshops und Talks.
Experimentierfreudige Klassiker
Zu den experimentierfreudigen Klassikern, die bei der 20. Ausgabe ein Comeback in Form einer erneuten Ausstellungspräsentation feiern, gehören die österreichische Medienkunst-Legende Valie Export, die britische Künstlergruppe Gorilla Tapes, der Kölner Pionier Marcel Odenbach sowie Jan Verbeek, der als Meisterschüler des ›Video-Papstes‹ Nam June Paik mit der Materie vertraut wie kaum ein anderer sein dürfte. Mit aktuellen Produktionen beteiligen sich Videonale-Wiedergänger*innen wie Mark Bain, Stéphanie Lagarde, Stefan Panhans & Andrea Winkler sowie Anna Zett. Schließlich entwickeln Alwin Lay, Julia Scher und das Duo Dani & Sheilah ReStack, die an der Videonale 16 beteiligt waren, brandneue Arbeiten.
Ein weiteres Novum besteht darin, »dass die Ausstellung für diese Ausgabe dauerhaft in die Stadt hinein erweitert wird und sechs Ausstellungsstationen in der Bonner Alt- und Innenstadt permanent mit einzelnen Werken bespielt werden«, sagt Tasja Langenbach. »Ziel war, die Videokunstwerke dorthin zu bringen, wo ihre Themen und Inhalte entstehen – in die Stadtgesellschaft.«
Ein Besuch der Videonale lohnt ganz besonders am Eröffnungswochenende (11. bis 13. April), wie Annette Ziegert betont: »Die meisten V.20-Künstler*innen sind persönlich vor Ort und sprechen über die Entstehung ihrer Werke und ihren Umgang mit dem Medium Video. In drei Gesprächsrunden thematisieren Philipp Gufler, Ana María Millán, Marcel Odenbach und Yan Wai Yin das Phänomen des Standhaltens in ihren Werken.«
Ziegert hebt den Trinkpavillon in Bonn-Bad Godesberg als Schauplatz der Videonale hervor. Dort animiert der in den Niederlanden lebende US-Künstler Mark Bain am 11. April mit seiner Langzeit-Performance »The Archisonic« zum Soundbaden. Am Tag darauf gibt es mit »Introductions« ein neues Format der künstlerischen Annäherung an die Werke der Ausstellung. Dazu gibt es geführte Stadtspaziergänge und ein Kinderkurzfilmprogramm.
Das Jubiläum bietet eine gute Gelegenheit zum Rückblick und zur Bilanz – nicht nur in eigener Sache, sondern auch hinsichtlich der Entwicklung der Videokunst. Als gravierend bezeichnet Tasja Langenbach »die rasante technologische Entwicklung: Lief die Distribution früher mit VHS-Kassetten, U-matic oder Beta SP-Tapes auf dem Postweg, sind wir inzwischen bei mp4-Dateien und Vimeo-Links angelangt, die innerhalb von Sekunden über das Internet geteilt werden können.« Kein Wunder, dass sich dadurch auch die Videokunst verändert. Langenbach: »Weil die Präsentationsmedien günstiger geworden sind, wurden im Gegenzug auch die Präsentationsformen aufwendiger.« Nicht zuletzt verweist sie auf die Erweiterung des digitalen Raums durch Games und Virtual Reality, die in den letzten Jahren einen regelrechten Quantensprung bewirkt hat.
Hinzu kommen die jüngsten Fortschritte in puncto Künstlicher Intelligenz, die es jedermann ermöglichen, mit einem schlichten Text-Prompt ein Video quasi aus dem Nichts zu generieren. Wie sieht die Video-Expertin eigentlich das Verhältnis zwischen Alltagsvideos und Kunstvideos? Tasja Langenbach verweist auf »den Kontext, in dem etwas präsentiert wird«, räumt aber zugleich ein, es sei »schwierig, immer eine eindeutige Grenze zu ziehen«. Ein künstlerischer Mehrwert entstehe jedenfalls dann, »wenn etwas aus seinem ursprünglichen Zustand in einen neuen transformiert wird.« Für diese Art der Horizonterweiterung bietet die 20. Ausgabe der Videonale reichlich Gelegenheit.
»VIDEONALE.20«
Kunstmuseum Bonn und sechs Außenposten im Bonner Stadtraum
Die Kölner SK Stiftung entdeckt die Becher-Schülerin Tata Ronkholz wieder. Bekannt wurde sie vor allem mit den Bildern von Büdchen und Trinkhallen.
Bekannt wurde sie vor allem mit den Bildern von Büdchen und Trinkhallen. Zwischen Köln und Dortmund hat Tata Ronkholz (1940-1997) in den späten 70er und frühen 80er Jahren mit ihrer Großbildkamera etliche davon abgelichtet. Schnörkellos, meistens in Schwarz-Weiß und und immer menschenleer sind diese Fotos. In ihrer sachlich-dokumentarischen Herangehensweise kommen sie den Arbeiten von Bernd und Hilla Becher recht nahe.
Nach dem Studium an der Werkkunstschule Krefeld und zehn Jahren, in denen sie als selbständige Designerin gearbeitet hatte, war Ronkholz 1977 an die Düsseldorfer Akademie gewechselt, wo sie mit Candida Höfer, Axel Hütte, Thomas Ruff oder Thomas Struth zu den ersten Schüler*innen der Bechers zählte. Während viele ihrer Kommiliton*innen groß Karriere machten, wurde es um die früh verstorbene Tata Ronkholz bald still. Die Retrospektive in der Kölner SK Stiftung zeigt nun erstmals umfassend ihr vielseitiges Werk. Neben all den alten Büdchen mit Tageszeitungen und Zigarettenautomat, Bier-Reklame und Lagnese-Tafel beeindruckt etwa eine Werkserie, in der sie ab 1979 gemeinsam mit Thomas Struth das historische Düsseldorfer Hafenareal festgehalten hat – vor dem Abriss und der Errichtung des Medienhafens.
Zeitgleich ist ein Fotografie-Band mit rund 100 Trinkhallen, Büdchen und Kiosken erschienen: Tata Ronkholz, Verlag der Buchhandlung Walther König, Köln 2025, Hardcover, Deutsch / Englisch, 192 Seiten, 49,80 Euro
Das Gustav-Lübcke-Museum in Hamm ermöglicht dem türkischen Künstler Ramazan Can eine erste Einzelausstellung in Deutschland – zu Recht.
Er hat sie einfach einbetoniert. Das ist der erste Gedanke, der einem kommt, kaum hat man die Werke von Ramazan Can entdeckt: Immer wieder hat er Alltagsgegenstände seiner anatolischen Familie in Beton gegossen. Uralte Teppiche, die er zunächst fein säuberlich gestapelt hat – und dann in eine Art Betondekorum regelrecht eingekästelt, im wahrsten Sinne des Wortes einbetoniert. Wenige Meter weiter leuchtet ein weiterer Teppich vor sich hin: Schwungvoll hat er einen Lichtschlauch um ihn gelegt – aber ihn dann in ein Metallkonstrukt gezwängt und wiederum mit Beton ummantelt. Immer wieder Beton, in Form von Straßenziegeln, auf denen die alten Teppiche abgelegt sind. Oder als graue Masse, die die Alltagsgegenstände umschließt, ja, geradezu zu ersticken droht – und gerade dadurch vielleicht umso stärker offenlegt, um was es hier geht: um Tradition und Aufbruch, Stillstand und Nomadentum, Vergangenheit und Zukunft.
»Home« heißt Ramazan Cans Ausstellung im Hammer Gustav-Lübcke-Museum schlicht – die die erste Einzelschau in einem deutschen Museum für den türkischen Künstler, Jahrgang 1988, ist. In ihr verhandelt er eindrücklich das Thema der Heimat als Raum von Erinnerungen, als Ort des Verlustes oder der Heilung. Spirituell ist diese Schau irgendwie auch, weil sie sich uralten Riten und Kulten seiner Familie widmet, die aus dem südlichen Anatolien stammt: Immer wieder tauchen neben den Teppichen skelettierte Tierköpfe auf, die im warmen Neonlicht im wahrsten Sinne des Wortes eine Aura entfalten. Halten sie Böses von uns fern? Ist ihre wohltuende Wirkung nur Einbildung?
Fest steht, dass Ramazan Can ein Nachfahre der Yörüks ist, eines nomadischen Volksstamms, und es ist interessant, herausfordernd und wohltuend zugleich, all die Puzzleteile aus Vergangenheit und Gegenwart, all die unterschiedlichen Materialien und Bezüge, die er in dieser Ausstellung zeigt, für sich zusammenzusetzen: Da ist zunächst ein Video zu sehen, in dem die Kamera lange auf den flinken Fingern älterer Frauen ruht. Geschickt und mit unendlicher Geduld knüpfen die Frauen Teppiche. Gleich daneben zeigt der heute in Ankara lebende Künstler die uralten Musterschablonen für Teppiche seiner Familie mit all ihren Gebrauchsspuren – und ein Stück weiter das, womit er den Verlust von Wissen, das Auslöschen von Kulturen in Kunst fasst: Da hängen Teppiche an den Wänden, auf denen die traditionellen Muster in einer nichtssagenden beigen Fläche auslaufen. Sich ein riesiger Wandteppich plötzlich in unzählige Puzzleteile zerfasert. Oder ein alter Teppich die Form eines Maschinengewehrs angenommen hat – eingegossen wieder in Beton.
Roter Schnitzlack, China, 15. Jahrhundert, LWL-Museum für Kunst und Kultur, Münster. Foto: Tomasz Samek
2004 wurde das Museum für Lackkunst in Münster geschlossen. Glücklicherweise gelangte die gesamte Kollektion der BASF in die Obhut des LWL-Museums für Kunst und Kultur in Münster.
Vasen, Geschirr, Gefäße für Zeremonien, Möbel, Nadeletuis, ja sogar die Paneele einer barocken Kutsche – Lackkunst kommt in unterschiedlichsten Zusammenhängen zur Anwendung und veredelt Kunst und Alltag. Der Stammbaum dieser bis heute praktizierten Spielart des Kunsthandwerks ist ebenso altehrwürdig wie weitverzweigt: Seit mindestens 5000 Jahren wird in China das Harz des Lackbaums genutzt, um Oberflächen zu veredeln und Gegenstände ornamental zu verzieren. Glatt, glänzend, gleichmäßig und als hochwertige Versiegelung für beinahe jede Fläche geeignet: Vor allem diese Materialeigenschaften machen den getrockneten Lack zur Allzweckwaffe der Dekorationskunst. Zum einen dient China-Lack als Bindemittel für Farben, die in zahlreichen Schichten (mitunter bis zu 200) aufgetragen werden; zum anderen lässt sich das Material für Schnitzwerk nutzen.
Von China aus verbreitete sich die Lackkunst zunächst nach Japan und in andere asiatische Länder, später in den arabischen Raum und seit dem 16. Jahrhundert nach Europa. Ein frühes Beispiel für Globalisierung. Hierzulande waren die sogenannten Exportlacke beliebter Bestandteil der Chinoiserien – in der Zeit des Barock und Rokoko wurden China und Ostasien zum irdischen Paradies verklärt, wo Bambus, Lotusblätter, Pagoden, Drachen und Figuren in phantastischen Kostümen exotisches Flair verbreiteten.
Nadeletui und Navette, 2. Hälfte 18. Jahrhundert, LWL-Museum für Kunst und Kultur, Münster. Foto: Tomasz Samek
Umfangreiche Lackkunst-Bestände finden sich beispielsweise im Palastmuseum Peking, im Nationalmuseum Tokio oder im Londoner Victoria and Albert Museum. Ein Spezialmuseum, das sich ausschließlich dieser Kunsttechnik widmet, gab es lange Zeit in Münster – weltweit ein Unikum. Das Museum für Lackkunst, betrieben von der in Münster ansässigen BASF-Sparte Coatings, vereinte rund 1200 Objekte der Lackkunst aus Ostasien, Europa und der islamischen Welt. Weil der Unternehmensbereich Lack der BASF-Gruppe seine Sponsoring-Aktivitäten auf den Bereich Bildung konzentrierte, passte ein Museum nicht mehr ins Portfolio. Im Januar 2024 war der Lack ab und das Haus an der Windthorststraße wurde geschlossen.
Ein Vorgang, der sich mit einem weinenden und einem lachenden Auge betrachten lässt: Weil BASF Coatings seine Lackschätze dem Landschaftsverband Westfalen-Lippe (LWL) für den symbolischen Preis von einem Euro übereignete, wurde die einzigartige Kollektion nicht über den Kunsthandel veräußert und zerfleddert. Nun kümmert sich das LWL-Museum für Kunst und Kultur in Münster um die kostbaren Objekte. Zum BASF-Coatings-Erbe gehört außerdem ein umfangreicher Fundus historischer Rezept- und Vorlagenbücher zum Thema Lack.
Mit Patricia Frick hat das LWL-Museum eine eigene Kuratorin für Lackkunst mit der Hege und Pflege der Preziosen betraut. Die Integration und kuratorische Aufbereitung der Sammlung unterstützte die Kulturstiftung der Länder »mit einem hohen fünfstelligen Betrag«. Deren Generalsekretär Markus Hilgert spricht von einer »Blaupause«: »Die Übernahme dieser Sammlung durch das LWL-Museum für Kunst und Kultur kann als Modell für die gelingende Überführung einer Sammlung aus dem Privatbereich in eine öffentliche Einrichtung gelten.«
Nachdem Patricia Frick im vergangenen Oktober mit einem Exportlack-Kabinett in der Reihe »Kunstwerk des Monats« einen Vorgeschmack auf die Neuzugänge des Museums gab, soll die Sonderausstellung »Faszination Lack – Kunst aus Asien und Europa« dem Publikum einen umfassenden Einblick in die Materie ermöglichen. Präsentiert werden unter anderem frühe Beispiele chinesischer Lackkunst, Perlmutt- und Goldstreulacke Koreas und Japans, europäische Lackobjekte des 18. und 19. Jahrhunderts sowie zeitgenössische Beispiele. Im Zentrum der Schau stehen jene Exportlacke, die eine Brücke zwischen den Kulturen Ostasiens und Europas schlagen.
Ältestes Exponat ist ein exquisites Tablett aus China
Erstaunlich, welch unterschiedliche Objekte unter dem Materialmantel des Lacks sinnvoll Unterschlupf finden. So begegnet man in der Ausstellung beispielsweise einem exquisiten Tablett mit blühendem Pflaumenzweig aus China; es entstand im 14. Jahrhundert und zählt somit zu den ältesten Exponaten. Bei einem im 18. Jahrhundert in Korea gefertigten Kleiderkasten zaubert Schwarzlack mit Perlmutteinlage ein reiches florales Ornament hervor. Tabakdosen, Bonbonnieren oder Operngläser, allesamt mit Lack glanzvoll herausgeputzt, bezeugen die verfeinerte höfische Kultur, wie sie besonders an europäischen Fürstenhöfen gepflegt wurde. Ein Hingucker im Miniaturformat ist auch ein japanisches Inro (ein raffiniert verschachteltes Lackbehältnis) mit einem Jagdfalken.
Was macht das Besondere dieser Kollektion aus? »Die Sammlung«, erklärt Patricia Frick, »ist weltweit einzigartig, da sie die künstlerische Nutzung des Werkstoffs Lack in all seinen Spielarten in den verschiedenen Kulturen und über die Jahrhunderte dokumentiert. Andere Sammlungen sind zum Beispiel auf asiatische oder europäische Lackkunst spezialisiert, zeigen aber nicht die Entwicklungen in Asien, der islamischen Welt und Europa über die Jahrhunderte auf.«
Mit dieser ersten großen Sonderausstellung will Frick einen Querschnitt der Sammlung zeigen. Und vor Augen führen, dass es sich bei der Lackkunst nicht um ein abgeschlossenes kunsthistorisches Phänomen handelt. Patricia Frick: »Ganz bewusst habe ich mich für einen Schwerpunkt mit zeitgenössischer Lackkunst entschieden. Zum einen, weil ich eine Brücke in die Bestände des LWL-Museums schlagen möchte, zum anderen, weil ich selbst von der Innovation und Kreativität der zeitgenössischen Arbeiten begeistert bin. Die Lackkünstler in Asien und Europa knüpfen an tradierte Techniken an und geben ihnen neue Impulse. Sie schaffen aber auch gänzlich Neues, indem sie teils starre Vorgaben hinter sich lassen und neue Wege beschreiten.« Dass sich Lackobjekte, die zu Unrecht immer noch weithin in der Nische des Kunsthandwerks verortet werden, hinter Gemälden und Skulpturen nicht zu verstecken brauchen, davon kann man sich nun in Münster überzeugen.