Das Museum für Gegenwartskunst Siegen präsentiert zeitgenössische Kunst aus der Vogelperspektive. Die Ausstellung »Für die Vögel« zeigt, dass unsere gefiederten Freunde als Botschafter in vielerlei Anliegen fliegend unterwegs sind.
Nicht von ungefähr gilt Franz von Assisi als Ahnherr der Tierschützer. Besondere Zuneigung brachte der Heilige den Vögeln entgegen. Er sprach sie als »Brüder« an und ermunterte sie, Gott zu loben. Gründe dafür, glaubte Franz, gebe es genug. So habe der Schöpfer sie mit Flügeln ausgestattet, dank derer sie mühelos die Lüfte erobern können – die Erfüllung des Ikarus-Traums, den die Menschen bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts vergeblich träumten. Zudem müssten die Vögel im Unterschied zu uns weder säen noch ernten, weil Gott sie ernähre. Offenbar fand Franz von Assisi Gehör: Um zu signalisieren, dass die Predigt auf fruchtbaren Boden gefallen war, öffneten die Vögel die Schnäbel und neigten ehrfürchtig ihr Köpfchen. Und flogen erst davon, als Franz sie segnete und das Kreuzzeichen machte.
Ein anderer Franz, nämlich der tiefgläubige Komponist Franz Liszt, widmete der mittelalterlichen Heiligenerzählung 1863 ein Klavierstück: die »Legende Nr. 1: Die Vogelpredigt des Franz von Assisi«. Darauf bezieht sich die Berliner Künstlerin Annika Kahrs in ihrer Video-Installation »Playing to the Birds«: Ein Pianist spielt Liszts »Legende« vor einem ungewöhnlichen Publikum. Es besteht aus Singvögeln, die der Vorführung in Käfigen beiwohnen. Auf das virtuose Trillern der Klaviertasten reagieren sie – ganz anders als herkömmliche Konzertbesucher*innen – mit lautem Zwitschern. So entsteht ein munterer Dialog zwischen Musik und Vogelgesang, zwischen Mensch und Tier.
Flug durch die Kunstgeschichte
»Playing to the Birds« ist nun Teil einer ungewöhnlichen Ausstellung im Museum für Gegenwartskunst in Siegen. Dessen Direktor Thomas Thiel hat unter dem Motto »Für die Vögel« Arbeiten aus der eigenen Sammlung zu einer Themenschau zusammengefasst, die den Seh- und Hörsinn gleichermaßen anspricht. Knapp 20 ornithologisch relevante Kunstwerke, die Thiel in einen größeren gesamtgesellschaftlichen und ökologischen Zusammenhang einbettet, sind zu erleben, darunter Arbeiten von David Claerbout, Anna Jermolaewa, Maria Lassnig, Jochen Lempert und Peter Piller. Begleitet wird die Ausstellung durch eine Tagung am 5. Juli. Auf dem Programm stehen dort unter anderem Vorträge der Kunsthistorikerin Jessica Ullrich (»Kleiner Flug durch die Kunstgeschichte. Kunst aus der Vogelperspektive«) und des Biologen und Publizisten Cord Riechelmann (»Vom Leben in der Luft«).
Alle Vögel sind schon da im Museum für Gegenwartskunst Siegen? Wie und weshalb Amsel, Drossel, Fink und Star zeitgenössische Künstler*innen inspiriert haben, das kann man bei einem Rundgang durch das Haus erfahren. Tiere als Thema der Kunst – zu diesem populären Sujet gab es in der Vergangenheit bereits eine Reihe von Ausstellungen, denen das LWL-Museum für Kunst und Kultur in Münster im kommenden Jahr eine weitere hinzufügt (der Start ist im Oktober 2026 geplant). Deutlich seltener begegnet man einer Eingrenzung auf Vögel, obwohl das Leigh Yawkey Woodson Art Museum im amerikanischen Wisconsin jährlich eine Ausstellung unter dem Motto »Birds in Art« organisiert.
Es lohnt also, diesen Spezialaspekt künstlerisch zu beleuchten. Bezeugt doch schon der Ausdruck »gefiederter Freund«, dass wir zu den Vögeln eine besonders enge Beziehung haben. Eben diese alltägliche Vertrautheit, die Hitchcock in seinem Film »Die Vögel« aus heiterem Himmel außer Kraft setzte, steigert die Wirkungskraft des von ihm ersonnenen Horrorszenarios. Bedrohlich ist auch David Claerbouts »Birdcage«: Im Video des belgischen Künstlers verwandelt sich ein von Vögeln bevölkerter, friedlicher Garten durch eine Explosion in ein flammendes Inferno.
Unsere Nähe zu den Vögeln macht Jochen Lempert zum Gegenstand seiner dreiteiligen Schwarz-Weiß-Fotografie »Vogel in der Hand« – eine Anspielung auf die Redensart »Lieber den Spatz in der Hand als die Taube auf dem Dach«. Ein Rotkehlchen, ein Zilpzalp und eine Weidenmeise haben sich vertrauensselig auf der Hand des Fotografen niedergelassen. Im Vergleich zu seinen auf der Nahaufnahme mächtigen Fingern wirken sie rührend winzig.
Als Haustiere sind Vögel geschätzt – wegen ihres Gesangs, des farbenprächtigen Federkleids und ihres lebhaften Wesens. Als Boten zwischen Himmel und Erde spielen sie in der Mythologie eine wesentliche Rolle. Und als Symbolträger verkörpern sie ganz unterschiedliche Botschaften. So wird der Rabe (dem Riechelmann 2013 sogar ein eigenes Buch widmete) in vielen Kulturen als Todesbote angesehen – aber auch als Träger geheimer Weisheit. Der Adler versinnbildlicht Macht und Herrschaft, der Schwan Anmut, die Eule Weisheit und die Taube Frieden.
Der hässliche (und unzutreffende) Ausdruck »Ratten der Lüfte« missachtet, mit welch außerordentlichen – und lange Zeit für die Menschen außerordentlich nützlichen – Fähigkeiten die Tauben gesegnet sind. Auf deren Magnetsinn und die überdurchschnittlichen Flugeigenschaften bezieht sich Anna Jermolaewa in ihrer Aquarell-Serie »Famous Pigeons«, die in Siegen gezeigt wird: Die in Wien lebende russische Künstlerin malte acht berühmte Brieftauben, die sich hauptsächlich auf militärischem Gebiet Verdienste erworben haben.

Berühmtheit erlangte vor allem die französische Brieftaube Cher Ami, eine fliegende Heldin des Ersten Weltkriegs. Während der Maas-Argonnen-Offensive im Oktober 1918 überbrachte sie, obwohl durch feindlichen Beschuss schwer verletzt, eine Botschaft vom sogenannten »Lost Battalion« der 77. US-Infanteriedivision. Von deutschen Truppen umzingelt und zudem versehentlich von der eigenen Artillerie beschossen, drohte den Soldaten der sichere Tod. Cher Ami legte die rund 40 Kilometer zum US-Divisionshauptquartier in etwas mehr als einer Stunde zurück und sorgte dafür, dass das »Friendly Fire« sofort eingestellt wurde. Vier Tage später konnte die Einheit gerettet werden. Keine Überraschung, dass die tapfere Taube mit der Kriegsauszeichnung Croix de Guerre geehrt wurde.
Vögel als Informationsträger und Frühwarnsystem sind auch federführend beim Beitrag des russischen Künstlerinnen-Kollektivs Chto Delat. »Canary Archives« heißt die Installation, bei der mehrere Videobildschirme in einem großen Vogelkäfig untergebracht sind. Der Titel bezieht sich auf den englischen Ausdruck »Canary in a Coalmine« – er geht auf die einstige Praxis zurück, Kanarienvögel in Kohleminen mitzuführen, da diese Tiere besonders empfindlich auf giftige Gase reagieren und die Bergleute bei Gefahr durch ihr Verstummen warnten. Die Aktivist*innen von Chto Delat beziehen Stellung gegen Unrecht und politische Missstände. Die Moral ihrer »Canary Archives« lautet: In jedem von uns steckt ein Kanarienvogel, der Alarm schlägt, wenn Gefahr droht.
Faible für Falken
Auch das Berliner Künstlerinnen-Duo Fort ist in der Ausstellung vertreten. Ihr »Archiv der Sorgen« trugen Alberta Niemann und Jenny Kropp zusammen, als sie 2023 als Artists in Residence nach Siegen eingeladen worden waren. Dabei fragten sie die Bürger*innen, wo ihnen der Schuh drückt. Anschließend sprachen Schauspieler*innen die gesammelten Sorgen in einem Tonstudio ein – es waren fast 400 Befürchtungen, sowohl persönliche Nöte als auch gesellschaftliche Ängste. Die Verkündigung im Foyer des Rathauses delegierte Fort schließlich an animierte Raben, die auf schwarzen Müllsäcken sitzen. In Fabeln treten sprechende Raben häufig auf – meist repräsentieren sie List und Eitelkeit. Niemann und Kropp dagegen verwandeln die Vögel in Botschafter der Aktion Sorgenmensch.
Marianna Simnett hingegen reiht den Raben in ihrem Kurzfilm »The Bird Game« in die Hitchcock-Tradition ein: In dem surrealistisch angehauchten Film wird eine Gruppe von Kindern in ein tödliches Spiel mit einer Krähe verwickelt. Greifvögel, durch die Falkenjagd domestiziert, sind ein beliebtes Motiv der mittelalterlichen Buchmalerei. Dass auch die zeitgenössische Kunst ein Faible für Falken hat, demonstrieren in Siegen Arbeiten von Yuri Ancarani, Maria Lassnig und Prateek Vijan.
Dominik Eulberg, dessen Background als DJ, Musikproduzent und Ornithologe durchaus ungewöhnlich ist, veröffentlichte 2023 gemeinsam mit dem Künstler Matthias Garff das Buch »Tönende Tiere – Die Musik heimischer Stimmwunder«. Im Museum für Gegenwartskunst Siegen präsentiert Eulberg ein Follow-up-Projekt, das auf 26 heimische Vogelarten begrenzt ist. Von der Amsel über die Nachtigall bis zum Zaunkönig reicht diese »Tönende Tiere«-Galerie. QR-Codes eröffnen den Zugang zu Eulbergs Musik. Als Papageno der elektronischen Musik gelingt ihm der Schulterschluss zwischen »Zauberflöte« und »Öko-Techno«.
»FÜR DIE VÖGEL«
MUSEUM FÜR GEGENWARTSKUNST SIEGEN
4. JULI BIS 9. NOVEMBER