Kein Warten im Vorzimmer, es gibt gar kein Vorzimmer, das Büro so schmal, dass gerade so ein Schreibtisch vor das Fenster und zur Tür hin ein kleiner, runder Tisch mit zwei Stühlen hinein passen. Remsi Al Khalisi, der neue Schauspieldirektor des Theaters Münster, tritt zwar allein und nicht im Kollektiv an, aber ansonsten gehört er unübersehbar der neuen Generation von Leitungsfiguren an deutschen Stadttheatern an.
Die vorige Stufe seiner Karriereleiter erklomm er in Bamberg. »Gibt es da überhaupt ein Theater?«, fragte er sich, als er hörte, dass die neue Intendantin Sibylle Broll-Pape für das ETA Hoffmann Theater einen Chefdramaturgen suchte. Heute würde diese Frage wohl nicht mehr aufkommen, denn in den vergangenen sechs Jahren hat er mit dafür gesorgt, dem Haus überregionale Aufmerksamkeit zu bescheren: »Gleich zur Eröffnung war die Süddeutsche Zeitung da, die später regelmäßig kam«, erinnert er sich, »wir waren dreimal zu den Mülheimer Theatertagen eingeladen und vor Corona zu fünf weiteren Festivals – die dann leider alle ausfielen«.
Eine Auslastung von weit über 80 Prozent hat das Team in Bamberg geschafft, obwohl es der leichten Muse der Vorgänger politische und neue Dramatik entgegensetzte. Es fragte: »Was ist Deutsch?«, als das Land über die Flüchtlingskrise diskutierte, und stellte einen Spielplan unter das Motto »Europa« als der Brexit kam. »Es gab außerdem immer einen Autor oder eine Autorin, mit denen wir uns intensiver beschäftigt haben.«
Nach Bamberg, ins katholische Bayern, zu kommen, war für Remsi Al Khalisi ein Kulturschock. Er ist ein West-Berliner Gewächs, 1967 im Stadtteil Wedding geboren und dort aufgewachsen. »Noch als Schüler bin ich in den 1980er Jahren in die Schaubühne gegangen und habe dort zum einen gemerkt, was für eine unglaubliche Qualität die Stücke haben, aber auch, was für ein Geheimnis, ein Mysterium sie mir waren. Ich saß in Botho-Strauß-Uraufführungen und habe nichts verstanden, aber das hat mich angespornt, meinen Erkenntnisdrang angeworfen.«
Remsi Al Khalisi ist als Kind eines irakischen Einwanderers und einer deutschen Mutter (»preußisch, blond und blauäugig«) in einem Arbeiterhaushalt aufgewachsen und hat die Zeit der geteilten Stadt noch mitbekommen. »Manchmal sind wir rüber in den Ostteil, wofür man 25 Mark umtauschen musste. Dann hat man sich eine schöne Dostojewski-Ausgabe gekauft, ist Essen und ins Theater gegangen und war das Geld immer noch nicht los.« Er hat die Wende-Jahre erlebt, als die Stadt zu einem politisch aufgeladenen Experimentierfeld wurde, hat mit einer Gruppe die freie Spielstätte Theaterdock in einem besetzten Haus in Moabit gegründet und als Dramaturg unter anderem am Maxim Gorki Theater Berlin oder dem Theater Magdeburg gearbeitet.
In Münster kann er unter Generalintendantin Katharina Kost-Tolmein nun erstmals in leitender Position das Schauspiel-Programm bestimmen. Mit der Stadt hat er weniger gefremdelt als anfangs mit Bamberg. »Das norddeutsch Nüchterne ist mir als Berliner näher. Das Katholische wirkt hier in Preußen ganz anders, fast protestantisch«, sagt er lächelnd. »Außerdem ist die Stadt größer und das Haus bietet mehr Möglichkeiten, auch spartenübergreifend zu arbeiten.« Das tut er mit einer Uraufführung von Thomas Köck, bei der Musik, Tanz und Schauspiel zusammenkommen. »Wir wollen mal schauen, wie gut das funktioniert.«
Der lange Titel von Köcks Stück »und wenn ich von der zeit spreche spreche ich von der zeit die schon nicht mehr ist (am rande des rollfelds)« ist eine Ausnahme im Programm. »Eigentlich mag ich diesen Trend zu mega komplizierten Titeln nicht, die schon anstrengend zu lesen sind«, sagt der neue Schauspieldirektor. Die Stücke auf seinem Spielplan heißen »Orestie«, »Geizige« oder »Blaue Frau«. Hinter der »Orestie« steckt aber eine Neuvermessung des Mythos unter anderem mit Texten von Sivan Ben Yishai. »Geizige« nach Molière ist eine Komödie, die nur mit Frauen besetzt wird. Und »Blaue Frau« die erste Inszenierung des Stoffs der Buchpreisgewinnerin Antje Rávik Strubel.
Von elf Premieren sind sieben Uraufführungen. »Ich will das Theater zu einem Ort radikaler Gegenwart, von Vergegenwärtigung machen«, sagt Remsi Al Khalisi und setzt damit seinen in Bamberg so erfolgreichen Kurs fort. Das ist im eher konservativen Münster natürlich eine Ansage. Aber er glaubt an die Offenheit des Publikums – und auch an das Potential, neue Schichten zu gewinnen. »Wir kommen als Stadttheater nicht damit weiter, nur den Kanon zu reproduzieren.« Es sei eine der Hauptaufgaben, auch neues Publikum zu erreichen, das sich andere Fragen stellt, nicht so im Kanon verankert ist. Welche Fragen sind das? »Die nach Identität und Nachhaltigkeit zum Beispiel, auch Queerness ist ein großes Thema.«
Neue Diversität im Ensemble
Der 55-Jährige hält die aktuellen Diskurse um Identität, Rassismus, Klassismus, Sexismus für sehr wichtig, »so lange es um Empowerment geht. Vielleicht kommen wir irgendwann in eine Phase, wo es nicht mehr nötig sein wird, sie so laut zu stellen«. Aber im Moment heißt politisches Theater zu machen für ihn, auch identitätspolitische Fragen zu stellen, auch die Frage, wer repräsentiert eigentlich wen. »Natürlich denke ich einerseits, dass alle Schauspieler*innen alle Rollen spielen können. Aber wenn ich dann eine neue Fernsehserie über schwules Leben in Berlin sehe und weiß, dass der Cast rein heterosexuell ist, da frage ich mich schon, ob das so sein muss.«
In sein Ensemble hat er gut zwei Drittel neue Schauspieler*innen aufgenommen. »Es war vorher gar nicht divers und wir haben erste Schritte unternommen, das zu ändern, die gesellschaftliche Vielfalt mehr abzubilden«, sagt er. Unter anderem sind ein Schauspieler syrischer Herkunft dabei und eine Schwarze Schauspielerin aus der Schweiz, eine weitere Schwarze Person soll noch dazu kommen.
»Was erhoffst du dir für die nächste Generation?« steht als Frage auf dem neuen Gesamtspielplan des Theater Münster. Das erste abgedruckte Zitat ist von der Schauspielerin Agnes Lampkin, die sagt: »Dass die woke ist, und problemlos gendern kann.« Doch Remsi Al Khalisi will trotzdem keinen Überhang auf diese für ihn aktuell wichtigen Diskurse: »Wir wollen auch satte, große Geschichten erzählen, die andere wichtige Themen anpacken. Mein Ideal ist ein so anspruchsvolles wie sinnliches Theater.« Man darf gespannt sein, wie er die Welten verbindet.
Orestie
wieder am 5., 8. und 19. November, Großes Haus
Blaue Frau
(Uraufführung), wieder am 3., 6., 13. und 27. November, Kleines Haus
Pisten…
(Deutschsprachige Erstaufführung), wieder am 18. November, Studio
Geizige
Premiere am 26. November, Großes Haus
Das Vermächtnis
Premiere am 3. Dezember, Kleines Haus