Lillian Stillwell, Chefchoreografin von Tanz Münster, inszeniert das Vermächtnis der französischen Nationalheldin »Jeanne d’Arc« mit A-Capella-Opernchor und den Schlagzeugern des Sinfonieorchesters Münster. Choreografisch bleibt manches vage – als Gesamtkunstwerk aber ist der Abend ein überwältigendes Ereignis.
Dunkle Gestalten betreten nach und nach die mystische, in Nebel gehüllte Bühne. Singend finden sie zu Formationen zusammen. »L‘ homme armé dout on doubter« (»Den bewaffneten Mann muss man fürchten«) warnen sie in dem französischen Chanson aus dem 15. Jahrhundert. Der 100-jährige Krieg zwischen Frankreich und England tobt. Wie Geister erscheinen die Sänger*innen in ihren schlichten, anthrazitfarbenen Gewändern. In der Tat, sie sind die visionären Stimmen von Jeanne d’Arc, die mit nur 17 Jahren die Franzosen anführen wird und mit ihrem Enthusiasmus die Stadt Orléans befreit. Dank des mutigen Bauernmädchens wird Charles VII. gekrönt. Das Mädchen aber, verraten von der Kirche, wird zwei Jahre später auf dem Marktplatz von Rouen als Hexe verbrannt.
Wie eine Wand bewegt sich der gemischte Chor auf das Publikum zu, um beim Rückwärtsschreiten in seiner Mitte den Blick auf eine Tänzerin am Boden freizugeben: die Jungfrau von Orléans im Schneidersitz, gehüllt in eine helle, an Kampfkunst erinnernde Wickeljacke. Die zarte Jeanne erhebt sich. Sie tanzt sich auf Spitze in klassischem Duktus durch die rätselhafte Klangwelt, die der Chor jetzt allein mit seinen Stimmen (Beat Furrers »Enigma I-IV« zu prophetischen Texten Leonardo da Vincis) erzeugt. Die Töne erreichen eine scharfe Höhe – Jeanne hält sich die Ohren zu.
Starke Bilder
Obwohl sie ein Hauch von Aura der Entrücktheit umgibt, bleibt die jugendliche Heldin blass. Was nicht unbedingt an Valerie Yeo liegt. Eher daran, dass die selten prägnante Choreografie eingebettet ist in ein überzeugendes, komplexes Gesamtkonzept, das auf ästhetische Reduktion setzt: ein wunderbarer A-Capella-Chor, inspirierende Lichtkunst und vor allem die schlicht überwältigende Percussion.
Die Geschichte der Jeanne d’Arc deutet Lillian Stillwell in starken Bildern an: Das Mädchen unter einem Lichtdom kündet von Erleuchtung, eiserne Handschuhe verweisen auf die Kämpferin in der Schlacht, brennende Fackeln kündigen den Scheiterhaufen an. Jeanne ringt mit sich selbst, tanzt mit einem kleinen Ensemble in einem Vokabular aus Ballett und Kampfkunst. Hier streift Stillwell die Revue, hier liegt ihre choreografische Stärke.
In einem zauberischen Wald aus fliederfarbenen und weißen Lichtbalken (Marco Vitale) scheint Jeanne mit dem Ensemble in den Kampf zu ziehen. Kurz darauf sieht man die verratene Kriegerin mit drei abstrahierten Baumstämmen auf dem Rücken abgehen. Ein großartiges Percussion-Solo (»Variations on Fuga C II« von Peter Sadlo) begleitet die Szene. Der Star des Abends heißt Relmu Levalle Campusano. Auf einer tiefen, großen Felltrommel treibt er Jeanne vor sich her, aggressiv, laut, mit kraftvollen Wirbeln und harten Schlägen.
In eine klinisch weiße Welt führt die letzte Szene, überschrieben »Zukunft«. Hier tanzt eine Gruppe in hellen Ganzkörperanzügen beinahe roboterhaft synchron. »Algorithmen-Choreografie« nennt Lillian Stillwell ihr Finale. Sie führt das Vermächtnis ihrer Heldin in die digitale Welt. Eine Erkenntnis, die sich allerdings erst durch das Programmheft erschließt. Auch hier sind es die Percussionisten Campusano und Thomas Korschildgen, die an Trommel und Muschelhorn in den Bann ziehen.
Bis 10. Mai, Theater Münster