Am Theater Münster inszeniert Ruth Mensah Dinçer Güçyeters preisgekrönten Roman »Unser Deutschlandmärchen«. Dabei blickt sie vor allem auf die Frauen, die als Gastarbeiterinnen hierzulande so viel geleistet haben. Und auf das Märchenhafte des Romans.
Es ist sein erster Roman. In »Unser Deutschlandmärchen« erzählt Dinçer Güçyeter die Geschichte einer Einwandererfamilie, seiner Familie, über mehrere Generationen. 2023 bekam er dafür den Preis der Leipziger Buchmesse verliehen, im April inszenierte Hakan Savaş Mican erfolgreich eine erste Adaption am Berliner Maxim Gorki Theater. Der Autor selbst, seine Familie und viele weitere Menschen aus Güçyeters Heimatstadt Nettetal waren damals zur Premiere angereist, so war es zu lesen. Am Theater Münster wird es jetzt eine zweite Bühnenversion dieses gefühlvollen, poetischen, auch brutal schmerzhaften Romans geben. Premiere ist am 2. November.
Regisseurin Ruth Mensah und Dramaturg Tobias Kluge haben ihre eigene Textfassung erarbeitet. Sie schauen vor allem auf das Märchenhafte, das Fantastische des Romans. Güçyeter schreibt in Monologen, Dialogen, in Briefen, Träumen, Liedern und chorischen Passagen über die ältere Generation der anatolischen Gastarbeiterinnen, die für ihre Familien in Deutschland gekämpft und geackert haben. Diese unterschiedlichen Stilrichtungen, die zwischen Prosa und Poesie wechseln, hätten sie sehr interessiert, sagt Ruth Mensah. Denn sie zeigen die Kraft der Imagination und welches gesellschaftliche Potenzial sie hat. Dinçer Güçyeter erzählt vom diasporisch-migrantischen Arbeitermilieu. Mehr Wertschätzung, mehr Bewusstsein für die Leistung, die diese Frauen, die Gastarbeiterinnen, erbracht haben, das ist auch ein erklärtes Ziel der Regisseurin.
Fatma ist eine von vielen
Ruth Mensah gehört nicht zur türkischen Community, sie und ihr Regieteam nähern sich dem Stoff über ihre eigenen diasporischen Perspektiven: Welches Potenzial und welche Herausforderungen bringt Entwurzelung mit sich? Das Thema spielt auch in Teilen von Mensahs Familie eine Rolle. Seit mittlerweile sechs Jahren dokumentiert sie die Geschichte ihres Vaters, der Ende der 1970er Jahre Ghana als politisch Verfolgter im Zuge der Studentenbewegung der Ignatius Acheampong Regierung verlassen musste. Die Idee, aus der Geschichte einen Dokumentarfilm zu machen, hat sie mittlerweile verworfen. Aber da geht es nur um das Medium, nicht um den Stoff.
Fatma, Dinçers Mutter, wurde verheiratet und folgte ihrem Mann in den 1960er Jahren nach Deutschland. Sie schuftete in der Fabrik, auf dem Feld, in der eigenen Kneipe. Fatma ist eine von vielen. Sie repräsentiert eine ganze Generation. »Diese Frauen sind so unsichtbar«, sagt Mensah. Und die Regisseurin, die jetzt zum zweiten Mal in Münster inszeniert, erzählt von der westlichen Ausbeutungsstruktur, die Arbeitskräfte ausschließlich mit Blick auf ihre körperlichen Fähigkeiten sucht und bewertet, die den Menschen nicht als Ganzes sieht. »Viele Frauen im Ruhrgebiet, die für uns, für das deutsche Wirtschaftswunder so viel gearbeitet haben, sind jetzt von Altersarmut und Obdachlosigkeit bedroht, weil sie so wenig verdient haben und jetzt entsprechend wenig Rente bekommen.« Ruth Mensah hat ausgiebig recherchiert, viel Zeit zum Beispiel im Archiv des Dokumentationszentrums über die Migration in Deutschland (DOMiD) in Köln verbracht.
Auf der Bühne spielen die Figuren in einem komplett weißen Raum. »Ein leerer Ort, der viel Raum lässt für fantastische, mythische Bilder«, erklärt Mensah. Und sicherlich ein Ort, der viele Perspektiven zulässt, um der Frage nach Identität und Deutschsein nachzugehen.
Premiere: 2. November
Wieder am 8., 17. und 30. November, 18. und 21. Dezember